Deutschland bewundert Skandinavien:Wir wollen alle gut sein

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Politiker jeglicher Couleur nennen immer wieder ein Vorbild, wenn es um den Umbau des Sozialstaates geht: Skandinavien. Doch was macht die Länder im hohen Norden so erfolgreich?

Thomas Steinfeld

An einem kalten Dezembertag war Gösta Berling so verzweifelt, dass er sich in eine Schneewehe legte und sterben wollte. Denn er hatte große Schuld auf sich geladen. Ein hungriges Mädchen hatte ihm in großer Not einen Schlitten anvertraut, ein Sack Mehl hatte darauf gelegen, und Gösta Berling, der entlaufene Pfarrer in Värmland, hatte beides gegen Branntwein getauscht. Verantwortung muss der irrende Held erst lernen.

Volle Straßencafes in Stockholm: Schweden ist nicht nur beliebt bei Touristen, sondern wird auch von Politikern bewundert. (Foto: Foto: AFP)

So beginnt die "Sage von Gösta Berling", Selma Lagerlöfs schwedischer Bildungsroman aus dem Jahr 1891.

Er endet mit einer Hymne auf die gemeinsame Arbeit: "Wir wollen alle gut sein. Wir wollen von jedem das Beste. Wir wollen keinem schaden." Der Schmiedehammer schlägt den Takt dazu.

Traum von der Erlösung

In diesen Tagen träumen viele von einer solchen Erlösung. Ihr schönes Bild wurde wieder im Norden gesichtet. Gerhard Schröder erklärte, gegen Helmut Kohl gewendet, im Norden habe man die großen Probleme des Sozialstaates schon in den neunziger Jahren erfolgreich angefasst. Oskar Lafontaine behauptete, die Schweden hätten vorgemacht, wie man mit Lohnerhöhungen die Wirtschaft fördere. Auch Edmund Stoiber lobte Schweden: Da habe endlich einmal ein Staat seine Hausaufgaben gemacht.

Es ist keine zwei Jahrzehnte her, dass die skandinavischen Länder, allen voran Schweden, das Muster eines von allen möglichen Ansprüchen überlasteten, hoffnungslos bürokratisierten Sozialstaates abgaben. Höhnisch wurde kolportiert, dass Astrid Lindgren manchmal auf einen Steuersatz von mehr als hundert Prozent kam, freundlich wurde vermerkt, dass Ingmar Bergman vor der Enteignung durch das Finanzamt nach München flüchtete.

Der Höhepunkt schien erreicht, als Anfang der neunziger Jahre der schwedische Immobilienmarkt zusammenbrach und die Krone um dreißig Prozent abgewertet werden musste. Der Umschlag vollzog sich dann in nicht mehr als ein, zwei Jahren. Seitdem ist nicht nur in Schweden, sondern auch in Dänemark und Finnland etwas gelungen, wovon man hierzulande lange vergeblich träumt: die Integration einer beinahe amerikanischen Form der freien Marktwirtschaft in den Sozialstaat, mit stetem Wachstum und regelmäßigen Überschüssen im Staatshaushalt. Ein Bild, das alle deutschen Parteien betört, ob sie nun tiefblau oder knallrot sind.

Verhandlung statt Streit

Wie es die Skandinavier geschafft haben? Mit denselben Mitteln, von denen auch in Deutschland stets die Rede ist, wenn es um den sogenannten Umbau des Sozialstaates gehen soll: durch eine - in Schweden vorsichtige, in Dänemark radikale - Lockerung des Kündigungsschutzes, durch Verkleinerung des Staatsapparats, durch Kostensenkungen im Gesundheitswesen, durch unbezahlte Karenztage bei Krankheit, durch eine teilweise Privatisierung der Altersvorsorge, kurz: mit dem üblichen, längst bis zum Überdruss beschworenen Instrumentarium der Liberalisierung.

Der große Unterschied ist nur: Um diese Einbußen wurde in den skandinavischen Ländern nicht gestritten, sondern verhandelt. Es war der gesellschaftliche Konsens, der solch hässliche Taten möglich machte - und dieser entzieht sich aller Politik. Er ist eine soziale und psychologische Errungenschaft, die in Deutschland bis auf weiteres nicht zur Verfügung steht.

Arbeitslosigkeit ist in Deutschland eine Katastrophe, und Arbeit ein so heroischer, so existenziell aufgeladener Begriff, dass, wer sie verloren hat, sein Leben in Schande zu verbringen scheint. Und es sind vor allem Sozialdemokraten und Linke, die auf der emphatischen Vorstellung von Arbeit bestehen. In Dänemark und Schweden würde eine solche Haltung niemand verstehen: Vorübergehende Arbeitslosigkeit gehört zum Lebenslauf.

Keine Moralisierung von Arbeit

Irgendwann endet sie, und das gilt auch für ältere Arbeitnehmer. Ein zweites Studium im Alter von vierzig Jahren, ein Sabbatjahr, ein Elektroingenieur, der sich plötzlich zum Schreiner berufen fühlt - kein Problem, das lässt sich pragmatisch lösen. Die Bosheit, die es braucht, um aus Arbeit und Arbeitslosigkeit eine Frage von Charakter und Durchsetzungsfähigkeit zu machen, und umgekehrt: die schwärmerische Bewunderung, ja Zuneigung, die hierzulande jedem halbwegs erfolgreichen Unternehmer gezollt wird, sind Produkte einer Moralisierung von Arbeit, die in den skandinavischen Ländern unbekannt ist.

Nicht einmal der Gedanke, man müsse der Wettbewerbsfähigkeit halber allenthalben die Steuern senken, würde dort auf große Zustimmung stoßen. Das liegt zu einen daran, dass die Wirtschaft traditionell niedrig besteuert wird - viel zahlen muss erst, wer Betriebskapital in persönlichen Reichtum verwandelt.

Zum anderen aber ist allen offensichtlich, was mit diesem Geld angestellt wird: In den nordischen Ländern ist, um ein Beispiel zu nennen, die Erwerbsquote bei Männern und Frauen gleichermaßen hoch. Dies setzt, weil die Nordländer darüber hinaus noch hohe Geburtenraten haben, ein gut funktionierendes System von Krippen, Kindertagesstätten und Ganztagsschulen voraus - und eine Einstellung zu Kindern, die aus den durch sie verursachten, kürzeren oder längeren Abwesenheiten vom Arbeitsplatz kein Berufs- oder gar Karrierehindernis werden lässt.

Keine Eliten-Beschwörung

Ganz abgesehen davon, dass ein Mann, der sich nicht an der Betreuung der Kinder wie an der Hausarbeit beteiligte, im Umgang mit Freunden und Bekannten nicht nur mit massiver Kritik, sondern mit einem Abbruch der Beziehungen rechnen müsste. Gewiss - so etwas zählt offiziell nicht als Wirtschaftsfaktor. Aber es ist dennoch einer.

Die hysterische Beschwörung der Elite, mit der die deutschen Hochschulen im internationalen Wettbewerb bestehen sollen, ist in den nordischen Ländern unbekannt. Sie bilden großzügig aus, vor allem in den Natur- und Ingenieurswissenschaften, auf breiter Grundlage, und wer einen Abschluss hat, kann meist mit einer Anstellung rechnen. Trotzdem gehört etwa die schwedische Exportindustrie zu den erfolgreichsten der Welt.

In der Ausländerpolitik wird sehr schnell, und oft auch sehr rigide, nach der Bereitschaft zur Integration unterschieden. Undenkbar, dass, wer sich mehrere Jahre in einem skandinavischen Land aufhielte, sich nicht in der jeweiligen Landessprache ausdrücken könnte.

Begeisterte Bankbeamte

Wer aber wirklich wissen wollte, worin der Unterschied zwischen Skandinavien und Deutschland besteht, der sollte versuchen, den Kauf eines Hauses mit einem Kredit zu finanzieren. Von gleich mehreren Bankangestellten misstrauisch beäugt, müsste er hierzulande nachweisen, dass er die Summe, die er leihen möchte, schon besitzt.

In Schweden aber würde man ihn freundlich fragen, ob er, da die Zinsen gegenwärtig sehr niedrig seien, neben dem Haus nicht auch noch ein neues Auto bräuchte. Unvorstellbar, in einer deutschen Bank auf solche Begeisterung zu stoßen - von der entsprechenden Begeisterung für die Belebung der Binnennachfrage durch heftigen privaten Konsum ganz zu schweigen.

Im Februar 1986, zwei Wochen vor seiner Ermordung, verteidigte Olof Palme eine Politik, die umfassende Sicherheit vor den Unwägbarkeiten des Lebens versprach: "Sie nimmt uns die Furcht vor dem Unerwartbaren, das kommt, um unser Leben und unsere Träume zu zerstören. Sie geleitet uns zum Lichten und zum Guten." Diese Worte wurden gesprochen, als der Sozialstaat den Höhepunkt seiner Expansion erreicht hatte. Dennoch klingen sie sehr nach dem entlaufenen Pfarrer in Värmland, und dieser hatte mit Rente und Krankenversicherung und Kündigungsschutz wenig zu schaffen. Dahinter versteckt sich Gösta Berlings "leichteste und schwerste Sache": eine Kultur des Enthusiasmus für den Konsens.

© SZ vom 21.09.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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