Der Brexit-Streit:Gefährlich abhängig vom Nachbarn

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Der weite Weg des Geldes: Hinweisschild für eine Geldwechselstube, gleich hinter der Schafweide - gesehen in Irland. (Foto: Charles McQuillan/Getty Images)

Ein EU-Austritt Großbritanniens träfe keinen Staat so hart wie Irland.

Von Björn Finke, London

Eine Krise hat das kleine Land gerade hinter sich gelassen, und nun könnte die Wirtschaft wieder in Schwierigkeiten geraten - wegen des größeren Nachbarn. Ein Austritt Großbritanniens aus der EU "wäre ein Schlag für die Erholung in Irland und würde zu einer langen Phase der Unsicherheit für die Firmen führen", sagt Pat Ivory. Der Ökonom ist beim irischen Wirtschaftsverband Ibec für EU-Politik zuständig. Unternehmer und die Regierung in Dublin blicken voller Sorge auf den 23. Juni: An diesem Tag stimmen die Briten darüber ab, ob sie in der Union bleiben.

Irland wäre von allen EU-Staaten am stärksten von einem sogenannten Brexit betroffen. Die Republik teilt als einziger Staat eine Landgrenze mit Großbritannien; etwa 400 000 gebürtige Iren leben im Königreich; die Wirtschaft der Nachbarn ist eng verflochten. Die EU hat zudem den Friedensprozess in Nordirland unterstützt. Ein Austritt würde diese Hilfe gefährden. Deswegen ist die Position der irischen Regierung eindeutig: "Wir hoffen sehr, dass Großbritannien sich entscheidet, in der EU zu bleiben", sagte Premier Enda Kenny bei einer seiner vielen Reden zu dem Thema. Aber selbstverständlich sei das einzig und allein Sache der britischen Wähler, wie er pflichtschuldig klarstellte.

Zu diesen Wählern gehören allerdings auch ausgewanderte Iren. Bei dem Referendum dürfen neben britischen Staatsbürgern Einwanderer aus Commonwealth-Staaten und aus Irland abstimmen. Da hat die Botschaft des Regierungschefs aus Dublin durchaus Gewicht. Umfragen sagen ein ziemlich enges Rennen voraus.

Der Konservative Kenny ist seit 2011 Taoiseach, wie sein Amt auf Irisch heißt, und die Koalition aus seiner Partei Fine Gael und der Labour-Partei führte die Insel mit einem harten Sparprogramm aus der Krise. Irland musste 2010 als erster Staat den Euro-Rettungsschirm beanspruchen, nachdem die Immobilienblase geplatzt war. Doch seit 2013 braucht die Insel den Schutz nicht mehr. 2014 und 2015 wuchs die Wirtschaft sogar schneller als in jedem anderen EU-Staat; im laufenden Jahr soll das wieder so sein, mit mehr als vier Prozent Zuwachs. Die 4,6 Millionen Iren schreiben also die heiß ersehnte Erfolgsgeschichte der Euro-Rettung.

Trotzdem straften die Wähler die Koalition bei den Wahlen Ende Februar ab, weswegen Kenny nur noch einer Minderheitsregierung vorsteht. Er ist auf die Unterstützung von unabhängigen Abgeordneten und Oppositionspolitikern angewiesen. Würden sich die Briten für den Brexit entscheiden, müsste darum eine schwache irische Regierung mit den Folgen klarkommen. Eine Regierung, die zudem einen Schuldenberg abzutragen hat. Die Summe der Staatsschulden ist weiterhin fast so hoch wie die jährliche Wirtschaftsleistung.

Exporte sind für die irische Wirtschaft sogar noch wichtiger als für Deutschland

Aus der tiefen Krise hat sich die grüne Insel herausexportiert. Der Staat musste nach der teuren Bankenrettung sparen, und die Bürger mussten das auch, weil viele nach dem Kollaps der Hauspreise auf überhöhten Hypotheken sitzen geblieben sind oder ihren Job verloren haben. Doch die wichtige Export-Industrie machte weiter gute Geschäfte und trieb die beeindruckende Erholung der Wirtschaft an. Irland ist noch stärker von Exporten abhängig als Deutschland: Die junge, solide ausgebildete Bevölkerung, die Englisch spricht, und die niedrigen Steuern locken internationale Technologie- und Pharmakonzerne an, die dann von Irland aus die Welt beliefern.

Zweitwichtigster Exportmarkt nach den USA ist bereits Großbritannien. Umgekehrt ist Irland der fünftwichtigste Markt für britische Firmen. Ein Grund für den Boom Irlands in den vergangenen Jahren war auch, dass die Konjunktur im Vereinigten Königreich so gut lief und die Briten darum fleißig Produkte beim Nachbarn Irland einkauften. "Unsere Export-Industrie profitierte zudem vom schwachen Euro", sagt Dan O'Brien, Chefvolkswirt des Institute of International and European Affairs, eines Forschungsinstituts in Dublin. Nach einem Brexit werde das britische Pfund an Wert verlieren: Das mache irische Ausfuhren teurer in Großbritannien.

Gewinnen die Austritts-Fans das Referendum, bleibt Großbritannien zunächst Mitglied der EU und hat zwei Jahre, um mit Brüssel die Regelungen für die Zeit nach der Trennung auszuhandeln. Führende Vertreter der Brexit-Kampagne, etwa Justizminister Michael Gove, sprachen sich zuletzt dafür aus, dass Großbritannien lediglich ein Freihandelsabkommen mit der EU abschließen solle. Mit einem solchen Vertrag gäbe es zwar keine Zölle zwischen EU und Königreich, aber für Unternehmen würde der Handel über Grenzen hinweg trotzdem schwieriger. Bislang können Firmen ihre Produkte innerhalb des gemeinsamen Binnenmarktes der EU überall verkaufen, ohne dass die Ware in jedem Land extra zugelassen werden müsste. Dieser Vorteil fiele nach einem Brexit weg.

Der wichtige Handel zwischen Irland und Großbritannien könnte daher nach einem Austritt um ein Fünftel schrumpfen, heißt es in einer Studie des Dubliner Economic and Social Research Institute (ESRI), eines Wirtschaftsinstituts. Die Turbulenzen nach einem Sieg des Brexit-Lagers am 23. Juni könnten außerdem die britische Wirtschaft belasten. Das würde auch in Irland Wachstum kosten, warnen die Ökonomen - wegen der starken Abhängigkeit vom Nachbarstaat.

Wird der Handel nach Großbritannien schwieriger, träfe das die Bauern und die Nahrungsmittelindustrie in Irland besonders heftig: 41 Prozent ihrer Exporte gehen ins Königreich. Die Branche beschäftigt viele Menschen auf dem Land. In den Dörfern fernab von Dublin und anderen Wirtschaftszentren ist vom Boom nach der Krise nicht viel zu spüren. Der Brexit bedroht nun die wenigen Jobs, die es dort gibt.

Großbritannien wird bei einem Sieg der Brexit-Kampagne wohl an Reiz für ausländische Investoren verlieren. Konzern-chefs hassen Ungewissheit über zukünftige Regeln. Davon könnte Irland profitieren: gleiche Sprache, gleiche Zeitzone, noch niedrigere Steuern und weiterhin der gesicherte Zugang zum EU-Binnenmarkt. In London drohen ausländische Banken bereits, sie würden nach einem Austritt Abteilungen von der Themse in Euro-Staaten verlagern. In Dublins Finanzviertel betreiben Banken aus aller Welt Niederlassungen - da könnten ein paar hinzukommen. Trotzdem schätzt das Institut ESRI, der Brexit-Effekt bei den Auslandsinvestitionen in Irland bliebe überschaubar.

Regierung und Wirtschaft auf der Insel können also nur hoffen, dass die Briten gegen den Austritt stimmen. Sonst ist das irische Wachstumsmärchen schnell wieder vorbei.

© SZ vom 19.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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