Das deutsche Valley:Über den Brenner

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(Foto: N/A)

Lange lächelten die Menschen im Silicon Valley milde, wenn Europäer über ,,Industrie 4.0" redeten. Heute ist die Idee von der digitalen Fabrik zu Europas Markenzeichen geworden.

Von Ulrich Schäfer

Das Schöne an Europa ist, dass es nicht nur ein Tal hat - sondern viele. Nicht bloß ein Silicon Valley, sondern mehrere Valleys. Sie sind nicht so groß wie das Vorbild in Kalifornien, aber vielfältiger als das große Vorbild. Man kann dafür an die Spree fahren, an die Isar, die Themse, die Seine, den Main, die Elbe. Oder man fährt an die Eisack, einen Fluss, der am Brenner entspringt und 100 Kilometer weiter südlich Bozen erreicht. Die Hauptstadt Südtirols gilt nicht als Zentrum der digitalen Revolution. Und doch: Man hat einen Technologiepark geschaffen, in dem 40 Start-ups, 20 Forschungslabore und 60 etablierte Unternehmen zu Hause sind, auch der chinesische Telekommunikationskonzern Huawei wird sich dort ansiedeln und an Anwendungen für Ultrabreitband-Glasfasernetze forschen.

Einmal im Jahr treffen sich in Bozen auch 120 Unternehmer aus Deutschland und Italien, die Vertreter große Konzerne wie Bosch, ENI und Infineon ebenso wie Mittelständler, um über die Zukunft der Industrie zu diskutieren, und die ist mehr denn je digital. Auch vor wenigen Tagen ging es wieder darum, wie Deutschland und Italien gegen die mächtigen Internetkonzerne aus den USA und die neuen Konkurrenten aus China bestehen können. Die Antwort darauf lautet inzwischen auch in Italien: Industrie 4.0. Es geht also darum, Fabriken und Maschinen durch Big Data schlau zu machen und sie vollständig ins Internet der Dinge zu integrieren.

Noch vor zwei Jahren wurde man als Deutscher im Silicon Valley milde belächelt, wenn man über Industrie 4.0 reden wollte. "Industry Four Point Zero" - das sei ein Begriff, den hier niemand kenne, niemand verwende. Erfunden wurde er vor gut sechs Jahren in Deutschland, geprägt haben ihn Henning Kagermann, einst Chef von SAP und heute Präsident von Acatech, der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften; Wolf-Dieter Lukas, Abteilungsleiter im Bundesforschungsministerium; und Wolfgang Wahlster, Professor an der Universität des Saarlandes und einer der führenden Forscher in Deutschland für künstliche Intelligenz. In den VDI-Nachrichten veröffentlichten sie im April 2011, passend zur Hannover-Messe, der größten Industrieausstellung der Welt, einen Beitrag über "die vom Internet getriebene vierte industrielle Revolution", der sie den Namen Industrie 4.0 gaben.

4.0 deshalb, weil auch die Einführung von Dampfmaschine (1.0.), Elektrizität (2.0) und Computer (3.0) in den Jahrhunderten zuvor schon gewaltige Produktivitätsschübe in der Industrie ausgelöst hatten. Die drei Autoren schrieben damals: "Deutschland sollte hierbei die erste Geige spielen" und "bis 2020 Leitanbieter auf diesem neuen Markt" werden.

Doch auch hierzulande brauchte es einige Zeit, ehe der Begriff Industrie 4.0 akzeptiert wurde, in den Massenmedien tauchte er - ausweislich des Archivs dieser Zeitung - erstmals im Januar 2012 im Manager Magazin auf. Zu lesen war von einer "großen Umwälzung mit kaum zu überschätzenden Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft". Und heute? Nutzen den Begriff "Industrie 4.0" fast alle Manager und die meisten Politiker. Auch im Silicon Valley ist er nun akzeptiert und in Brüssel, bei der EU-Kommission, fest etabliert - als neues Markenzeichen nicht nur der deutschen, sondern der europäischen Industrie.

Darauf sind sie beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und dessen italienischem Pendant, der Confindustria, durchaus stolz. Die beiden Verbände veranstalten seit dem Jahr 2011 ihre Konferenz in Bozen. Sie sagen, sie hätten mit dem, was sie in den vergangenen Jahren dort an gemeinsamen Papieren beschlossen und danach in Brüssel vorgelegt haben, mit dazu beigetragen, die Industrie 4.0 auf die Tagesordnung der EU zu hieven.

Der Slogan wurde im Jahr 2011 erfunden, passend zur damaligen Hannover Messe

Im Artikel des Manager Magazins aus dem Jahr 2012 wurde als herausragendes Beispiel für die Industrie 4.0 übrigens die digitale Fabrik von Siemens im ostbayerischen Amberg genannt. Über eben jene Fabrik konnte man letzte Woche beim Abendessen in Bozen auch mit Giuliano Busetto diskutieren. Er ist bei Siemens Italia genau für diesen Bereich verantwortlich: das Geschäft mit der digitalen Fabrik. Seine Aufgabe ist es, die deutsche Technologie nach Italien zu bringen - und er profitiert dabei vom sehr guten Ruf, den Siemens dort seit über 160 Jahren genießt. Bereits kurz nach der Firmengründung knüpfte Siemens die ersten Kontakte, 1890 gründete man dann in Mailand die Società Italiana Siemens per Impianti Elettrici in Mailand.

Es ist nur eines von vielen Beispielen, die zeigen, wie eng die Verbindungen zwischen der deutschen und der italienischen Industrie seit jeher sind. Und jetzt, da die Digitalisierung alles so schnell umwälzt, werden diese Verbindungen noch wichtiger, um gemeinsam Antworten zu finden, wie BDI-Präsident Dieter Kempf in Bozen betont. Und so präsentierten die beiden Verbände zum Schluss ihrer Tagung ein umfangreiches Programm, welches sie der EU empfehlen wollen. Ganz vorne steht die Forderung, das Netzwerk aus digitalen Hubs, welches die EU gerade schafft, noch mehr mit Leben zu füllen - damit sie wirklich auch zu Anlaufstellen für kleine und mittlere Unternehmen werden, nicht bloß für große Konzerne. Auch einen digitalen Binnenmarkt in Europa zu schaffen, mit weniger Bürokratie, freiem Datenverkehr und einheitlichen Standards, steht weit oben auf der Agenda.

Ebenso der Wunsch nach mehr Milliarden für Forschung und digitale Infrastruktur.

Um Europa auch hier voranzubringen, sei Bozen der ideale Ort, meinte der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher. Denn Südtirol, das stolz auf seine Autonomie ist, aber keinesfalls wie Katalonien die Unabhängigkeit anstrebt, versteht sich laut Kompatscher "als ein Scharnier" zwischen Völkern und Wirtschaftsregionen. Und dafür steht heute eben nicht mehr nur der Brenner, sondern auch das Ultrabreitbandkabel.

© SZ vom 25.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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