Corona-Pandemie:An der Grenze

Lesezeit: 4 min

Der Lkw-Parkplatz an der Autobahn-Raststätte Michendorf bei Potsdam ist voll besetzt. (Foto: Ralf Hirschberger/dpa)

Ihr Leben war schon vor der Pandemie prekär, nun verschärft sich die Lage für ausländische Arbeitnehmer.

Von Kristina Ludwig und Henrike Rossbach, Michendorf/Berlin

Auf dem Autohof Michendorf, kurz vor Potsdam, sitzt ein alter Mann im Führerhaus eines Lkw, mit grauem Schnurrbart und Karohemd. Er reicht eine kleine Plastiktüte durch das Fenster. Die Broschüre von der Gewerkschaft lese er ja gern, sagt er, aber anfassen wolle er sie nicht. Er fürchtet die Viren. Michael Wahl vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) faltet seinen Flyer auf und legt ihn in den transparenten Beutel. "Haben Sie ausreichenden Krankenversicherungsschutz?", steht dort auf Polnisch, und: "Wussten Sie, dass es in Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn gibt?"

Wahl arbeitet bei dem DGB-Projekt "Faire Mobilität" und berät überwiegend osteuropäische Fernfahrer, die zu normalen Zeiten Autoteile, Post und Lebensmittel durch Deutschland fahren - im Schnitt für gerade einmal 500 Euro im Monat, wie Wahl sagt. Während ihrer Wochen und Monate in Deutschland leben diese Menschen in ihren Fahrzeugen, sie kochen ihre Abendessen auf den Rastplätzen und übernachten in den Kabinen. Dieses Leben ist schon ohne Pandemie prekär. Doch in der Corona-Krise verschärft sich die Situation der ausländischen Arbeiter in Deutschland zusätzlich, nicht nur in der Transportbranche, sondern auch auf Schlachthöfen, in Reinigungsfirmen, Hotels und bei den Betreuerinnen, die alte Menschen versorgen.

Der Herr mit dem Schnurrbart arbeitet für die polnische Spedition Demotrans, die Waren für Amazon durch Europa transportiert. Eigentlich wäre er im Rentenalter, sagt er, doch die Rente aus seinem Berufsleben als Fernfahrer reiche nicht aus. Normalerweise würde er Feiertage wie Ostern oder seine freien Wochen zu Hause verbringen. Jetzt aber droht Pendlern wie ihm beim Übertreten der deutsch-polnischen Grenze eine zweiwöchige Quarantäne. Dadurch wiederum laufen sie Gefahr, ihren Job in Deutschland zu verlieren oder keinen Lohn mehr zu bekommen. Auf dem Autohof Michendorf stehen an diesem Mittwochabend nun Dutzende Lkw. Viele der Fahrer warten auf Aufträge und hoffen, dass sie gut ausfallen. "Ich habe nur Angst, dass ich nach Italien muss", sagt der alte Mann. Doch wenn ihn sein Chef schickt, werde er fahren müssen.

Viele Menschen aus Osteuropa arbeiten regelmäßig in Deutschland

In den vergangenen zehn Jahren, das zeigt eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), hat sich die Zahl der Menschen, die aus dem Ausland nach Deutschland pendeln, um hier zu arbeiten, verdreifacht, auf knapp 200 000. Das Institut bezieht sich auf die Statistik der Bundesagentur für Arbeit, allerdings dürften tatsächlich noch wesentlich mehr Osteuropäer regelmäßig in Deutschland arbeiten. Allein die Zahl der zumeist polnischen Betreuerinnen, die alte Menschen pflegen, schätzt der DGB auf bis zu 600 000. Ein Grund für den Anstieg sei das "nach wie vor ausgeprägte Lohngefälle zwischen Deutschland und jenen Staaten", heißt es in der IAB-Studie.

Durch die aktuellen Grenzschließungen und Wirtschaftseinschränkungen sind diese Pendler oft in einer schwierigen Situation. "Es ist sehr unübersichtlich", sagt Dominique John vom DGB-Projekt. Spüren können er und seine Mitstreiter das unter anderem daran, dass die von ihnen eingerichtete Hotline für Arbeitnehmer aus dem Ausland derzeit geradezu überrannt wird. Ein Problem, das immer wieder auftaucht: Teilweise kommen Arbeiter auf dem Landweg nicht in ihre Heimat, oder sie sind in der Heimat und kommen nicht zurück nach Deutschland.

Nadia Kluge, Leiterin der Münchner Beratungsstelle von "Faire Mobilität", berichtet von 44 Hotelreinigungskräften, die derzeit zusammen mit sieben Kindern in ihrer Sammelunterkunft in München festsäßen und deren ohnehin geringen Löhne durch Kurzarbeit noch weiter geschrumpft seien. Sie könnten jetzt zwar mit Hartz IV aufstocken. "Aber sie sprechen die Sprache nicht, sind teilweise Analphabeten - wie sollen diese Leute selbständig einen solchen Antrag stellen?", fragt Kluge. Hinzu komme, dass es in der Unterkunft Vierbettzimmer gebe, ein Gemeinschaftsbad, gemeinsam genutzte Toiletten und eine Gemeinschaftsküche. "Sie leben auf engstem Raum, da kann man sich ja vorstellen, was für eine Gefahr besteht, wenn einer sich infiziert." In die Heimat zu reisen, sei für die meisten Betroffenen auch keine Option. Zum einen hätten sie kein Geld, zum anderen seien viele Roma, und diese kämen aus Ghettos, in denen die Zustände noch viel schlimmer seien.

In der Fleischindustrie arbeiten ebenfalls viele Menschen aus dem Ausland, oft für Subunternehmen. In den Schlachthöfen sind die Dinge derzeit aber oft anders gelagert. Statt weniger Arbeit gebe es mehr, sagt Szabolcs Sepsi, der von Dortmund aus Berufspendler berät. "Die Leute berichten von Überstunden." Als Problem entpuppe sich die vor dem Hintergrund der Corona-Krise hohe Fluktuation in der Fleischindustrie. "Normalerweise kommen und gehen in großen Betrieben mit 3000 bis 4000 Mitarbeitern schon mal 100 Leute in der Woche", sagt Sepsi. Jetzt aber fehle wegen der schwierigen Situation an den Grenzen der Nachschub an neuen Leuten. Die ohnehin langen Arbeitszeiten würden deshalb noch länger. Und auch in der Fleischindustrie seien in den vollen Massenunterkünften die hygienischen Bedingungen schlecht. Bernadette Petö berät von Dortmund aus Arbeitskräfte aus Ungarn. Bis zu 45 Anrufer melden sich bei ihr am Tag. Viele arbeiten normalerweise in Hotels und Restaurants, oft als Leiharbeiter, meist zu niedrigen Löhne. Einigen sei mit Beginn der Krise sofort gekündigt worden, "Die sind verzweifelt", sagt Petö, "denn sie wissen nicht, anders als sonst, ob sie in nächster Zeit einen neuen Job finden".

Andere nähmen unbezahlten Urlaub hin, etwa wenn sie es nach dem Heimaturlaub nicht mehr zurück schafften nach Deutschland. Wenn nicht gekündigt, sondern Kurzarbeit eingeführt wird, könnten manche von ihrem geringen Kurzarbeitergeld die Miete nicht mehr bezahlen.

Auch auf dem Autohof Michendorf beugt sich Berater Michael Wahl mit einer Stoffmaske vor der Nase über das Smartphone eines jüngeren Fernfahrers, der im Unterhemd aus seinem Lkw-Fenster lehnt. Das Handy zeigt ein deutsches Dokument, das dieser bei seinem deutschen Arbeitgeber unterschrieben hat: Demnach ist er mit jeder Art von Kurzarbeit einverstanden. Er hat Wahl um Hilfe gebeten: Er wisse leider nicht, was dieses Schriftstück bedeutet.

© SZ vom 14.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: