Regeln für Einzelhandel:Kafka im Supermarkt

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Verboten: Wegen Corona dürfen Bücher und andere Artikel in Frankreich nicht mehr im Einzelhandel verkauft werden. Hier eine abgesperrte Auslage in einem Großmarkt der Kette Auchan. (Foto: Bertrand Guay/AFP)

Frankreich erlässt im Corona-Lockdown bizarre Regeln für den Einzelhandel. Sie sollen das Leiden gerecht machen - und begünstigen doch nur Amazon.

Von Leo Klimm, Paris

Lebensmittel sind erlaubt. Haushaltswaren nicht. Hygieneartikel: gestattet. Make-up: nicht gestattet. Schreibwaren und Werkzeuge: zum Verkauf zugelassen. Bücher und Spielwaren: verbotenes Zeug.

Die Liste der "unentbehrlichen" und der "entbehrlichen" Güter, in die Frankreichs Regierung die weite Welt der Waren für das Überleben im neuerlichen Corona-Lockdown eingeteilt hat, ist fein austariert. Manchmal auch überraschend. Seit Mittwochmorgen sorgt sie für bizarre Szenen in den Supermärkten und den riesigen Hypermarchés, in denen die Franzosen mit Vorliebe ihre Einkäufe erledigen. Denn seitdem müssen diese breit sortierten Märkte die verbotene Ware, also die nach Behördenermessen entbehrliche, mittels Absperrband oder Bauzäunen vor den Kunden schützen. Großer Profiteur dieser Regeln ist der Onlineriese Amazon - den Frankreich sonst stets bekämpft.

Hochprozentiger Alkohol gilt als unentbehrlich, Bücher nicht

Bienvenue en Absurdistan. Nicht zum ersten Mal beweist die Pariser Spitzenbürokratie, dass sie Kafka Konkurrenz macht, und man wollte darüber lachen, hätte die Sache nicht einen so ernsten Hintergrund: zuletzt 30 000 bis 50 000 Corona-Neuinfektionen täglich. Deshalb müssen die Franzosen nun wieder zu Hause bleiben und sollen erst recht nicht vor die Tür, um vermeintlich überflüssige Konsumgüter zu erwerben. Wer sich dem widersetzt, mahnt Wirtschaftsminister Bruno Le Maire, "gefährdet die Gesundheit der Bürger". Dass er hochprozentigen Alkohol, nicht unbedingt ein gesundheitsförderndes Erzeugnis, unter diesen Umständen dennoch als unentbehrlich einsortiert, mag ein Zugeständnis an die Härten des Lockdown-Lebens sein. Warum Bücher, die diese Zeiten ebenfalls erträglicher machen könnten, von der Kulturnation Frankreich als verzichtbar eingestuft werden, leuchtet vielen im Land hingegen nicht ein.

Der Buchhandel war es denn auch, der vergangene Woche eine Revolte gegen die Kategorisierung anzettelte, gefolgt von Modeboutiquen, Spielzeughändlern und anderen, die ab sofort nur noch auf Bestellung vor der Ladentür verkaufen dürfen. Es sei nicht nachvollziehbar, warum kleine Geschäfte mit wenigen Kunden schließen müssten, nicht aber die Hypermarchés, in denen sich Hunderte gleichzeitig tummeln, beschwerten sich die Kleingewerbler. Sie wurden prompt erhört - allerdings nicht so, wie erhofft: Anstatt ihnen die Öffnung zu erlauben, verfügte die Regierung die Schließung konkurrierender Warenauslagen in den Supermärkten. Dies sei "ein Gebot der Gerechtigkeit". Jetzt schicken die großen Vollsortimenter Personal in Kurzarbeit. Das Grundprinzip der égalité kann unerbittlich sein.

Noch gibt es in Frankreich, anders als in Italien und Spanien, kaum Straßenproteste gegen die Corona-Schließungen. Doch in den sozialen Netzwerken gärt die Wut der kleinen Händler. Nach dem ersten Lockdown im Frühjahr hofften sie, mit dem Weihnachtsgeschäft ihre Existenz zu sichern. Diese Hoffnung schwindet.

"Amazon soll nicht auf Kosten kleiner Geschäfte der große Gewinner dieser Krise sein", beteuert Minister Le Maire. Er will die Läden bei der Digitalisierung ihres Geschäfts unterstützen. "Zum Ende der Krise", sagt er, "soll mindestens die Hälfte von ihnen digitalisiert sein". Wenn es sie dann noch gibt.

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