Chodorkowskij in Sibirien:Ein Zaungast, in gewisser Weise

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Moskau hat Michail Chodorkowskij ins Niemandsland verbannt. Doch in der sibirischen Strafkolonie JaG 14/10 dürfte der einstige Oligarch Ausnahmehäftling bleiben. Und zwar nicht nur, weil ihn jeder kennt.

Daniel Brössler

In allen Farben leuchten die Zeugnisse der Zivilisation. Wie Blumen auf einer Wiese beherrschen die Tüten und Folien aus Plastik ein gewaltiges Feld, vom Wind weit über die beabsichtigten Grenzen der Müllkippe hinausgetragen.

Tristesse: Das Straflager JaG 14/10 in Krasnokamensk. (Foto: Foto: AP)

Nach sieben Stunden der Fahrt über eine holprige Asphaltstrecke und fast zwei weiteren über eine Schotterpiste durch die gelbe Steppe ist es schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Einer aber drängt sich auf und stimmt fröhlich: Der Dreck ist ein Vorbote der Stadt und als solcher hoch willkommen.

Wenig später taucht ein Schild auf, fast wie selbst gemalt. Krasnokamensk steht darauf, was so viel heißt wie Roter Stein. Das klingt schön. Zur Linken tauchen Gräber auf, jedes Einzelne auf russische Art eingezäunt wie ein Schrebergarten. Es ist ein großer Friedhof, der sich weit in die triste Landschaft schiebt.

Am Rande von Krasnokamensk erhebt sich schließlich harmlos das Uran-Bergwerk. Zwei Fördertürme sind es, die sich hinter Betonklötzen in Hellblau und Schweinchenrosa verstecken.

In der Stadt selbst ist dann von Farbe nicht mehr viel zu sehen. Krasnokamensk ist eine graue Plattenbausiedlung im Nichts. Die Straßen haben hier keine Namen, jeder Block hat dafür eine Nummer. Das muss reichen. Immerhin, ein paar aufmunternde Schilder gibt es. Wie jenes, das mahnt: "Schutz der Umwelt - Schutz des Vaterlandes".

Am Rande von Krasnokamensk liegt das Straflager JaG 14/10. Gefügig schmiegt es sich ins Ambiente der umliegenden Industrieruinen, an der Schranke herrscht träge Gelassenheit. Ein paar Häftlinge vom "Dorf", dem offenen Vollzug außerhalb des eigentlichen Lagers, zünden sich Selbstgedrehte an.

Unter geschorenen Köpfen

Pawel, dessen geschorener Kopf unter einer dunklen Wollmütze hervorlugt, zeigt mit der Hand ins Ungefähre zu den Plattenbauten, die so ähnlich aussehen wie in der Stadt, nur niedriger. "Dahinten ist er", sagt er.

Er - das ist Michail Chodorkowskij, einst reichster Mann Russlands, nun Neuzugang in der Strafkolonie von Krasnokamensk. Für Chodorkowskij, den nach einem merkwürdigen Prozess wegen Betrugs und Steuerhinterziehung zu acht Jahren Lager Verurteilten, hatte die Reise am Jaroslawler Bahnhof von Moskau begonnen.

Das war schon ein schlechtes Zeichen gewesen. Der im neo-altrussischen Märchenstil gehaltene Bahnhof ist Ausgangspunkt der Transsibirischen Eisenbahn.

Durchsagen geben Orientierung

Wohin die Fahrt führen würde, hatten seine Bewacher Michail Chodorkowskij zwar nicht verraten, doch er hörte im Spezialwaggon der russischen Justizverwaltung ja die krächzenden Durchsagen an den Stationen: Perm. Da wusste der Häftling, dass der Ural naht. Nowosibirsk. Hier würde der Zug den gewaltigen Strom Ob überqueren. Irkutsk. Zum Baikalsee war es nicht mehr weit. Ulan-Ude. Angekommen im Land der Burjaten. Tschita. Fast schon China. Und dann noch weiter bis Krasnokamensk.

Erst als sich die Schranke der Strafkolonie JaG 14/10 öffnete, war das Ziel für Chodorkowskij nach sechs Tagen Zugfahrt erreicht, 6500 Kilometer entfernt von Moskau, seiner Familie und seinen Anwälten. Angekommen in einer Ödnis, in der die Temperaturen im Winter unter minus 30 Grad fallen. Hierher hatten schon die Zaren ihre Gegner gejagt.

Als bei Natalija Terechowa das Telefon klingelte, hatte die Anwältin gerüchteweise schon von der Ankunft des einstigen Oligarchen gehört. Chodorkowskij wolle sie sehen, sagte der Mann von der Lagerverwaltung. "Bei unserem ersten Treffen erkundigte Chodorkowskij sich nach seinen Rechten. Beklagt hat er sich nicht", berichtet Terechowa.

"Intelligent und gebildet"

Die rothaarige Juristin sitzt in ihrem kleinen Plattenbaubüro und blickt ein wenig ungeduldig hinter ihrem silberfarbenen Laptop hervor; der Job ist hektisch geworden in letzter Zeit. Schließlich plaudert sie aber doch über ihren neuen Mandanten, lobt ihn als "intelligent und gebildet", was ja bei der Klientel in JaG 14/10 doch eher die Ausnahme sei.

Ein ganz normaler Provinzknast sei das-mit jungen Häftlingen, gewöhnlichen Dieben in aller Regel. Alltagsgeschäft. Erst seit der Ankunft des Mannes, der Wladimir Putin herausgefordert hat, muss sich die Juristin um Ungewohntes kümmern.

Fast schon China: Krasnokamensk. (Foto: SZ-Karte: Beck)

Da wäre die Liste mit 50 Zeitungen, Zeitschriften und juristischen Fachmagazinen, die der Gefangene zu beziehen wünscht. "Herr Chodorkowskij ist gewohnt, viel zu lesen", sagt die Anwältin, was sie in einem Ort, in dem die Regionalzeitung aus Tschita mit dreitägiger Verspätung eintrifft, noch vor Probleme stellen dürfte.

Es ist Natalija Terechowa anzumerken, dass sie sich über ihren neuen Fall freut, über den Gefangenen, der wie ein Außerirdischer auf dem Planeten Krasnokamensk gelandet ist.

Bis zum Umbruch geschlossene Stadt

Terechowa war vor 17 Jahren, gleich nach dem Studium in Krasnojarsk, nach Krasnokamensk abkommandiert worden. "Ich bin gern hergekommen", sagt sie. Gegründet 1967 zum Zwecke der Uran-Förderung, blieb Krasnokamensk bis zum Umbruch Anfang der Neunziger eine geschlossene Stadt - nicht zu finden auf Landkarten, aber eben "mit hervorragender Versorgung und guten Löhnen", wie Terechowa versichert.

Es ist wohl dies der Grund, dass die Sowjetunion lebt in den Herzen der Menschen dieser Stadt. So sieht es jedenfalls Sergej Taratuchin, der weißbärtige Pope von Krasnokamensk. "Die Stadt ist doch eine kommunistische Gründung. Alle erinnern sich hier, wie gut es bei den Kommunisten war", sagt er und blinzelt schelmisch durch seine enormen, quadratischen Brillengläser.

Der Priester sitzt unter einem Jesus-Bild in einer kleinen Kammer seiner nagelneuen Spasskij-Kirche, während er von der alten kommunistischen Zeit erzählt: "Mit 18 Jahren bin ich vom KGB verhaftet worden wegen Gründung einer antisowjetischen Jugendorganisation." Das war 1974.

"Innere Freiheit gefunden"

Aus seiner Heimatstadt Tschita wurde Taratuchin nach Perm gebracht in ein Straflager für politische Gefangene. Hier begegnete er dem Dissidenten Sergej Kowaljow, mit dem er 15 Tage in einem "Strafisolator" verbrachte. "Im Gefängnis habe ich meine innere Freiheit gefunden", sagt Taratuchin, als Antikommunist sei er ins Lager gegangen und als Orthodoxer nach vier Jahren wieder herausgekommen.

In Tschita schlug er sich nach der Freilassung als Trolleybusfahrer durch, und erst mit der Perestrojka konnte er seinen Traum verwirklichen, Priester zu werden. Vor fünfeinhalb Jahren schickte ihn die Kirche schließlich nach Krasnokamensk, ausgerechnet in jene Stadt, in der die ihm so verhasste Sowjetunion noch so lebendig ist.

Vater Sergej ist auch Seelsorger der Strafkolonie JaG 14/10, und als er von der Ankunft Chodorkowskijs erfuhr, hat ihn das aufgewühlt. Warum, so fragte er sich, haben sie ihn hierher gebracht, und er hat einige Gründe gefunden. "Sehen Sie, die Stadt ist pro-kommunistisch. Bis heute gibt es eine Pionierorganisation. Die Leute mögen die Oligarchen nicht", sagt er.

Schnaps gegen Strahlung

Auf viele Sympathisanten könne Michail Chodorkowskij in Krasnokamensk also nicht hoffen. Und dann wäre da noch die Gesundheit. Vater Sergej ist überzeugt von der Schädlichkeit des Uran-Abbaus. Er kennt ja das Alter der Bergleute, wenn er ihnen das letzte Sakrament erteilt. "Sie werden 52 bis 54", sagt er, "das ist die Regel."

Eine Zeitlang gab es in Krasnokamensk einen öffentlichen Geigerzähler, angebracht über einem zentral gelegenen Geschäft. Irgendwann verschwand er, geklaut, wie es hieß. Seitdem bleibt den Menschen nur die Beteuerung der Behörden, dass es keine erhöhten Werte gebe.

Nicht alle glauben das. "Die Menschen sind überzeugt, dass Alkohol gegen die Radioaktivität hilft", klagt Vater Sergej, "und das ist leider noch schlimmer als die Radioaktivität". Weil der Pope sich um die vielen Männer sorgt, die sich schon morgens im "Laden Nummer zwei" und anderswo in der Stadt ihre Dosis besorgen, rührt er selbst keinen Alkohol mehr an. "In der Bruderschaft der Nüchternheit muss ich doch selbst mit gutem Beispiel vorangehen", sagt er.

Nur wenige beim Gebet

Die Erfolge bleiben bescheiden bislang, wie übrigens auch jene in der Gefängnisseelsorge. "Die Resultate sind nicht so wie gewünscht", räumt der Priester zerknirscht ein, "nicht viele begeben sich auf den richtigen Weg". Kaum mehr als 30 der etwa tausend Gefangenen sind es, die freitags Taratuchins Einladung zum Gebet folgen.

An fehlender Zeit liegt es jedenfalls nicht. Von einem Arbeitslager kann keine Rede sein, denn Arbeit ist knapp und als Mittel gegen die Langeweile heiß begehrt. Es ist ein öder Alltag zwischen dem Wecken um sechs und der Nachtruhe um zehn, den Wjatscheslaw Tschumakow beschreibt.

Der 34-Jährige ist vor drei Jahren herausgekommen aus dem Lager JaG 14/10, nachdem er sieben Jahre abgesessen hatte wegen Totschlags. Nun führt der schmächtige Tischler in Krasnokamensk eine kleine Möbelwerkstatt mit vier Angestellten. "Ein starker Mensch lebt gut drinnen, ein schwacher Mensch lebt schlecht", sagt Tschumakow.

Stark ist vor allem, wer starke Freunde hat, den "Smotrjaschij" der Abteilung zum Beispiel, den inoffiziellen Boss der Baracke, oder gar den "Smotrjaschij" des ganzen Lagers. Alles Posten, für die Chodorkowskij wohl nicht in Frage komme, meint Tschumakow, ohne eine entsprechende kriminelle Vorgeschichte sei da nichts zu machen.

Dennoch ist er überzeugt: "Chodorkowskij wird oben sein." Geld sei im Gefängnis ja eher noch wichtiger als draußen, weshalb wohl eine "Menge Leute Schlange stehen, um ihn kennen zu lernen".

Im JaG 14/10 ist Chodorkowskij einer der Ältesten und mit ziemlicher Sicherheit der Einzige mit Hochschulbildung. Sein Anwalt Albert Mkrtytschew ist aus Moskau angereist und sitzt im Hotel "Zentralnaja", welches ortsüblich aus ein paar Zimmern eines Plattenbaus besteht, auf seinem Bett und erläutert, dass sein Mandant sich einen Job als Lehrer in der gefängniseigenen Schule vorstellen könne. Ansonsten wolle "er keine Erleichterungen, sondern die gleiche Behandlung wie alle".

Aus seiner Zelle des Moskauer Untersuchungsgefängnisses "Matrosenruhe" hatte Chodorkowskij die Mächtigen mit hinausgeschmuggelten Aufsätzen und schriftlichen Interviews aufs Blut gereizt, und sein Anwalt macht klar, dass sich daran auch in der sibirischen Verbannung nichts ändern wird, wenngleich sich Chodorkowskij nun auch einer Doktorarbeit über Verwaltungsfragen widmen wolle.

Isolation nach Zarenart

In einer ersten Erklärung aus Krasnokamensk hat der Gefangene seine Anhänger bereits aus dem "Land der Dekabristen" gegrüßt, aus jener Gegend also, in die schon Zar Nikolaus I. Offiziere verbannt hatte, die im Dezember 1825 den Eid auf ihn verweigert hatten. "Der Kreml versucht, mich vollständig von Land und Volk zu isolieren, mehr noch, mich physisch zu vernichten", klagt er an. Doch, so droht der frühere Herr über Russlands einst größten Ölkonzern, "der Kampf hat erst begonnen".

In der winzigen Lobby des "Zentralnaja" steht eine zierliche Frau, der leicht anzusehen ist, dass Kampf nicht ihre Sache ist. Inna Chodorkowskaja trägt Jeans, Pulli und kein Make-up. Sie hat die Weltreise nach Krasnokamensk schlecht vertragen, und sie kommt soeben aus der Strafkolonie JaG 14/10.

Drei Tage durfte sie dort mit ihrem Mann verbringen, das erste Mal seit dessen Verhaftung vor fast zwei Jahren ungehindert von Gitterstäben und Glasscheiben. "Wir sind uns viel näher gewesen als je zuvor", sagt sie. Und auch, dass ihr Mann frisch und "in sehr guter Verfassung" sei.

"Starker Mensch"

Das bestätigt später auch Vater Sergej, der direkt nach dem Besuch der Gattin 20 Minuten mit dem Häftling Chodorkowskij sprechen durfte. "Er ist ein starker Mensch, und seine Augen verrieten mir, dass er gut ist", berichtet er.

Der Pope und frühere Gulag-Häftling glaubt gar an eine Seelenverwandtschaft mit dem Ex-Oligarchen, obwohl der nicht getauft ist, sein Lebensweg sei ihm "sehr sympathisch". Und, das ist klar, die Ankunft Chodorkowskijs hat den alten Kampfgeist in Vater Sergej geweckt.

Als der Gefängnisdirektor ihn bat, das Verwaltungsgebäude des Lagers zu segnen, ließ er ihn abblitzen. Das komme natürlich nicht in Frage, versichert er und blinzelt wieder durch seine quadratische Brille. "Nicht, solange hier ein politischer Gefangener sitzt."

© SZ vom 07.11.05 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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