Chinas Wirtschaft:In Misskredit

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Die Regierung in Peking will auch Unternehmen nach dem umstrittenen Sozialpunkte-System bewerten - und bei Verstößen sanktionieren. Die Firmen fürchten harte Strafen, hoffen aber auf klarere Regeln.

Von Christoph Giesen, Peking

Eigentlich dürfte es diesen elenden Smog in Chinas Städten gar nicht mehr geben. Kein verhangener Himmel mehr, keine tränenden Augen und kein Husten. Auf dem Papier hat die Volksrepublik die fortschrittlichsten Umweltgesetze der Welt, und doch verdunkeln Feinstaubwolken regelmäßig das halbe Land, Hunderttausende Chinesen sterben jedes Jahr an den Folgen.

Im Grunde seien die giftigen Wolken nichts anderes als die Sichtbarmachung der Korruption, bemerkte das britische Magazin Economist einmal sehr treffend. Denn bislang funktioniert es so in China: Droht einem Unternehmen ein Bußgeld oder muss eine Umweltauflage erfüllt werden - zum Beispiel ein neuer Abgasfilter für ein Stahlwerk -, wird in chinesischen Unternehmen oft der Taschenrechner gezückt. Kostet es mehr, sich an die Gesetze zu halten, als die Strafzahlung zu begleichen oder aber die zuständigen Beamten zu schmieren, wird meist äußerst pragmatisch gehandelt: Einen neuen Filter gibt es trotz Gesetz nicht, dafür weiter Feinstaub und Smog.

Das und viel mehr soll sich bald ändern, unseriöse Firmen sollen bereits 2020 vom Markt verschwinden und zwar mit einem weltweit beispiellosen Plan: dem Sozialkredit. Künftig soll nicht nur das Verhalten jedes einzelnen chinesischen Bürgers bewertet werden, sondern auch jedes in China tätige Unternehmen. Korrupten Firmen droht die Herabstufung, wer mit einem Umweltsünder Geschäfte macht, muss ebenfalls fürchten, dass seine eigene Bewertung sinkt. Höhere Bewertungen bedeuten niedrigere Steuersätze, bessere Kreditbedingungen, einfacheren Marktzugang und Vorteile bei der Vergabe öffentlicher Aufträge.

In Planung ist das System seit Jahren, nun wird es allmählich Realität, die ersten Verordnungen sind erschienen. Und die Europäische Handelskammer in Peking hat erstmals die Risiken, aber auch die Chancen für ausländische Unternehmen in einer Studie zusammengefasst. Der Sozialkredit ist demnach in der Lage, den chinesischen Markt zu regulieren. Es gibt aber auch etliche Hürden.

Ein Computer entscheidet künftig über Wohl und Wehe in der Volksrepublik

"Beim Sozialkreditsystem geht es für einzelne Unternehmen um Leben oder Tod", sagt EU-Kammerpräsident Jörg Wuttke. "Und viele Unternehmen sind sich nicht einmal im Klaren darüber." Etwa 30 Parameter seien künftig relevant: Zoll, Steuern, Umweltauflagen, Überprüfung der Zuliefer und noch einiges mehr. Hat man diese Faktoren nicht im Blick, können sich bald völlig isolierte Probleme auf das gesamte Geschäft auswirken. Ein harmloser Streit mit der Zollverwaltung in Nordchina? Schon sinkt das Punktestand. Manager in China müssen jedem noch so kleinem Problem Bedeutung zumessen.

Ein Computer entscheidet künftig also über Wohl und Wehe in der Volksrepublik, alles auf Basis von Daten. Im chinesischen Apparat ist der Glaube tief verwurzelt, dass die Planwirtschaft in der DDR oder Sowjetunion vor allem gescheitert ist, weil zu wenig Informationen vorlagen: Je mehr Daten, desto genauer lässt sich alles steuern, ist man sich in Peking sicher. Doch wie genau funktioniert der Algorithmus? Was passiert, wenn das System gehackt wird? Wenn Daten abfließen?

Eine Chinesin betet am Neujahrstag am Yonghegong Lama Tempel in Peking. Viele Bürger Chinas leiden unter der hohen Schadstoffbelastung. (Foto: Andy Wong/dpa)

Etwa ein Jahr vor der geplanten Einführung zeige sich, dass fast 70 Prozent der deutschen Unternehmen in China "nicht mit dem System, seiner Wirkungsweise und Zielsetzung im Geschäftskontext vertraut sind", sagt Jens Hildebrandt, der Geschäftsführer der Deutschen Auslandshandelskammer in Peking. Das sei das Ergebnis einer aktuellen Umfrage. Vor allem für viele Mittelständler dürfte es eine Herausforderung sein, sich für die Umstellung zu wappnen - schließlich müssen alle Geschäftsbeziehungen untersucht, jeder Lieferant überprüft werden. Das bindet enorme Kapazitäten.

Die EU-Handelskammer befürchtet, das Sozialkreditsystem könnte missbraucht werden

Ein Punkt, der Hildebrandt besorgt, ist die Verknüpfung der Unternehmensbewertung mit dem individuellen Sozialkredit der Manager. Laut Gesetzentwurf haften Firmen künftig für ihre Geschäftsführer. Ein verschuldeter Verkehrsunfall etwa oder ein privates Steuervergehen, schon sinkt plötzlich auch der Firmen-Score. Zudem ist nicht definiert, welche und wie viele Führungskräfte dazu unter die Lupe genommen werden. Im Gesetz ist die Rede von "verantwortlichen Personen". Bei Unternehmen wie Siemens, Daimler oder Volkswagen können das rasch einige Dutzend sein, deren Verhalten Einfluss auf die Bewertung und damit auf die Geschäftschancen der Firma auf einem der wichtigsten Märkte der Welt hat. Hildebrandt fordert deshalb, dass die Manager aus der Haftung genommen werden sollen. Ein Thema sicherlich auch für Bundeskanzlerin Angela Merkel, die kommende Woche mit einer großen Wirtschaftsdelegation nach China reist. Im Kanzleramt jedenfalls hat man den Bericht EU-Kammer gelesen.

Schwierig ist auch, dass noch vieles im Fluss ist: So finden sich in den etwa 350 veröffentlichten Vorschriften und Gesetzestexten immer wieder Paragrafen zur nationalen Sicherheit, die sich sehr weit auslegen lassen. Zudem fürchtet die Europäische Handelskammer, dass das Sozialkreditsystem etwa in Handelsauseinandersetzungen, wie derzeit mit den Vereinigten Staaten, missbraucht werden könnte. Nämlich dann, wenn ein Unternehmen als eine "schwer vertrauensunwürdige Firma" eingestuft wird und den Marktzugang in China ganz verliert. Punktabzüge sind demnach möglich, wenn etwa "das Vertrauen der chinesischen Verbraucher" erschüttert sei. Doch wie definiert man so etwas?

Ein mahnendes Beispiel für die ausländischen Unternehmen in China ist die südkoreanische Supermarktkette Lotte: Nachdem der Konzern 2017 in der Heimat zugestimmt hatte, dass auf dem Gelände eines Golfplatzes ein amerikanisches Raketenabwehrsystem installiert wird, kam es plötzlich zu Boykottaufrufen in China. Irgendwann wurden die ersten Läden geplündert, schließlich musste Lotte Filialen schließen, angeblich aus Brandschutzgründen. Ein Milliarden-Desaster. Mit dem Sozialkreditsystem im Rücken ließe sich ein Unternehmen bald womöglich noch schneller aus dem Markt drängen.

© SZ vom 29.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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