China:Willkommen im Moloch

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Die Silhouette der Hauptstadt Peking zeigt den schnellen Wandel der chinesischen Städte, in denen schon 2030 eine Milliarde Menschen leben sollen. (Foto: imago/Xinhua)

Die zunehmende Urbanisierung soll die Konjunktur in der Volksrepublik ankurbeln. Bald wird es 221 Millionenstädte im ganzen Land geben. Doch viele Neuankömmlinge sind mit dem Leben in den großen Städten überfordert.

Von Marcel Grzanna, Shanghai

Wenn Fang Bin in Shanghai Besuch von seiner Mutter bekommt, verfällt der Angestellte in Alarmstimmung. Die Frau um die 60 ist ein echtes Landei, die keinen blassen Schimmer hat, wie eine Großstadt funktioniert. Bis vor wenigen Jahren führte nicht einmal eine asphaltierte Straße vor ihre Haustür. Geboren und aufgewachsen in der Provinz Anhui, einer bis heute ärmlichen Region in Zentralchina, ist Mutter Fang zwar mit allen Wassern gewaschen, wenn Probleme in ihrem Dorf gelöst werden müssen. Die Stadt aber bleibt ihr ein Rätsel.

Für Fang Bin bedeutet das, auf seine Mutter gut achtgeben zu müssen, wenn sie in der Metropole zu Besuch ist. Sitzt er im Büro, bleibt sie zu Hause, statt auf eigene Faust den 20-Millionen-Moloch zu erkunden. "Sie weiß nicht einmal, wie sie heil über die Straße kommt", sagt der 39-Jährige. Er meint das so, wie er es sagt. Der Verkehr in Chinas Großstädten ist für arglose Fußgänger lebensgefährlich, weil Auto- und Busfahrer rücksichtslos ihren Vorteil suchen. "Meine Mutter ist völlig überfordert, wenn sie an einer großen Kreuzung steht", sagt Fang.

In den kommenden 15 Jahren werden hundert Millionen Menschen in die Städte wandern

Wie ihr geht es Millionen Chinesen. Die die rasende Entwicklung Chinas vor dem Fernseher, aber nicht am eigenen Leib mitverfolgt haben. Es ist ihr Land, aber es ist nicht ihre Welt. Kaum vorstellbar ist für diese Menschen ein Leben in einer solchen Metropole. Und doch werden hundert Millionen dieser Menschen in den kommenden 15 Jahren in die Großstädte ziehen müssen.

Die Urbanisierung des Landes ist die Antwort der Regierung auf die stotternde Wirtschaftsleistung des Landes, die mit 6,9 Prozent im vergangenen Jahr so niedrig war wie zuletzt 1990. Denn Städter konsumieren. Sie gehen in Supermärkte, zum Friseur, ins Restaurant und zum Arzt. Sie fahren Taxi, bringen ihr Geld zur Bank, sie bestellen Mode im Internet und sie lassen sich die Füße massieren. Bauern dagegen sparen.

Noch immer leben in China mehr als 600 Millionen Menschen auf dem Land. Das sind 45 Prozent der gesamten Bevölkerung. In anderen großen Volkswirtschaften sind es nur 20 Prozent. Das Missverhältnis gilt als einer der Gründe, weshalb der Binnenkonsum in der Volksrepublik nicht auf die Beine kommt. Seit Jahren arbeitet Peking durchaus erfolgreich daran, das zu ändern. In den vergangenen 25 Jahren sind Millionen dem Ruf der Städte schon gefolgt. Viele freiwillig, viele andere, weil ihnen die Behörden keine Wahl ließen und Zehntausende Dörfer abrissen. Bis zum Jahr 2030 sollen es rund eine Milliarde Menschen sein, die in den urbanen Großräumen leben. 221 chinesische Millionenstädte wird es dann vermutlich geben, noch einige Dutzend mehr als es heute ohnehin schon sind. In ganz Europa gibt es nur 35 Millionenstädte.

Und mittendrin Menschen wie die Mutter von Fang Bin. "Der Umzug in die Stadt ist mit vielen Veränderungen verbunden. Auf dem Dorf holen die Leute ihr Wasser aus dem Brunnen. In der Stadt drehen sie den Wasserhahn auf. Aber den Umgang damit kann man schnell ohne viel Aufwand lernen. Solche Dinge machen das Leben der Menschen leichter", sagt der Landwirtschaftsexperte Zheng Fengtian von der Renmin Universität in Peking. Ein Wasserhahn allein lockt die Bauern aber nicht. Es sind höhere Löhne und die Aussicht auf bessere Bildung für ihre Kinder.

Doch bisher läuft es so: Statt Teile des Ersparten in die Binnenwirtschaft zu investieren, schicken die neuen Städter große Teile ihres Geldes zu den Familien in ihren Dörfern. Dort wird entweder ein neues Haus gebaut oder das Geld als Krankenversicherung unter der Matratze gehortet. Das ist auch die Folge schleppender Sozialpolitik der Regierung. Denn noch immer verweigern die Städte den Neuankömmlingen die offizielle Registrierung als Bürger ihrer Stadt.

Der sogenannte Hukou, der eingetragene Wohnsitz, bleibt dort, wo die Menschen geboren wurden. Die Konsequenzen sind drastisch, weil der Hukou darüber entscheidet, welche sozialen Hilfeleistungen ein Mensch in der Stadt beanspruchen darf. So haben sich in der ursprünglich klassenlosen kommunistischen Volksrepublik staatlich geförderte Zwei-Klassen-Gesellschaften entwickelt. Ein anderer Nebeneffekt ist, dass Arbeiter, die es in die Stadt zieht, aus Kostengründen ihre Familien zurücklassen. Das zerreißt Familien und bremst die Urbanisierung. Der 13. Fünfjahresplan bis 2020 sieht deshalb eine Beschleunigung der Hukou-Reform vor.

Doch auch ein autoritäres System stößt trotz häufig gegenteilig verbreiteter Meinung an die Grenzen seiner Effizienz. Lokale Behörden überlassen die Arbeit lieber der Zentralregierung. "Städte oder Landkreise lassen sich die geringen Kosten, die zugezogene Arbeitskräfte produzieren, gerne gefallen. Sie zeigen keinerlei Engagement, den Status quo zu ändern", sagt Fachmann Zheng. Selbst wenn die Zahl der Stadtbewohner weiter wächst, bleibt der Binnenkonsum unter diesen Bedingungen vergleichsweise schwach, weil den Menschen die Sicherheit fehlt, ihr Geld auszugeben. Mit der Reform jedoch würde nicht nur die Basis für mehr Konsum geschaffen, sondern auch der breite Zugang zu gehobener Bildung für die Kinder der Bauern. "Wer sein Kind gut ausgebildet weiß, der sieht auch die Perspektive für künftigen Wohlstand der gesamten Familie", sagt Zheng.

© SZ vom 02.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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