China Valley:Im Taobao-Dorf

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An dieser Stelle schreiben jeden Mittwoch Christoph Giesen (Peking), Marc Beise (München), Karoline Meta Beisel (Brüssel), Helmut Martin-Jung (München) und Jürgen Schmieder (Los Angeles) im Wechsel. Illustration: Bernd Schifferdecker (Foto: N/A)

Millionen Chinesen nutzen Plattformen wie Taobao und Wechat, um Geld zu verdienen. Das Handelsministerium schätzt, dass es auf dem Land mittlerweile zehn Millionen Online-Läden gibt, die Tausende Dörfer ernähren.

Von Christoph Giesen

Das Bild wackelt, doch die Verbindung steht, Bauer Dafei überträgt live mit dem Smartphone von seinem Hof in der zentralchinesischen Provinz Hunan. Früher ist der 28-Jährige einmal Wanderarbeiter in der Küstenprovinz Guangdong gewesen, hat in Fabriken geschuftet für ein kleines bisschen Wohlstand, so wie Millionen andere Bauern auch. Das ändert sich nun allmählich. Statt in die großen Städten zu ziehen, die Familie zurückzulassen, in einem Werk anzuheuern, im Schlafsaal zu leben und genau einmal im Jahr für zwei Wochen zum Frühlingsfest die eigenen Kinder zu Hause zu besuchen, bleiben immer mehr Chinesen daheim in ihren Dörfern. Die Digitalisierung hat die letzten Winkel der Volksrepublik erreicht.

Seit zweieinhalb Jahren wirbt Dafei für seine Produkte per Livestream, seitdem wohnt er wieder in seinem Heimatort, mit seiner Frau und den beiden Kindern, das dritte ist gerade unterwegs. Am 17. März 2017 war er zum ersten Mal online, man sah seine älteste Tochter und die Oma, gemeinsam aßen sie vor der Kamera salzige Snacks, Würste, getrockneten Tofu, Schinken und eingelegtes Gemüse - all das, was Dafei im Angebot hat. Zehntausende Chinesen schauen ihm inzwischen jeden Tag dabei zu.

"Jetzt möchte ich Ihnen unsere Rettich präsentieren. Hochklassig und schmackhaft", sagt Dafei im breiten Hunan-Akzent, wie ihn auch Staatsgründer Mao Zedong sprach. Drei Mal muss er ansetzen, damit ihn überhaupt jemand versteht. "Hey, mein Hochchinesisch ist schlecht. Aber ich nehme das locker", sagt er. 28 Yuan möchte er für ein Glas eingelegten Rettich. "Wer jetzt bestellt, bekommt einen Fischschwanz dazu", verspricht er. Nach gut einer Stunde ist die Verkaufsshow beendet. "Letzte Chance etwas zu kaufen", ruft Dafei.

Wer eine Frage hat, kann sie in einem Feld schriftlich eintragen. Der Bauer antwortet dann: "Das Fleisch war zu scharf? Okay, das nächste Mal werde ich Oma bitten, weniger Pfeffer zu nehmen." Ansonsten könne man alles online bestellen, per Wechat, jener App, die in der Volksrepublik fast jeder benutzt. Etwa eine Milliarde Menschen haben den Dienst installiert. Statt Telefonnummern tauscht man in China häufig nur noch Wechat-Kennungen aus. Zehn, zwölf Mal nennt Bauer Dafei seine eigene: DF763769. Dann sagt er: "Wir müssen die Lieferung versenden. Wir sehen uns heute Abend um 18 Uhr wieder." Mit Sicherheit werden auch dann viele zusehen.

Die Volksrepublik ist beinahe im Livestream-Fieber. Überall im Land wird gefilmt. Im Bus, in der U-Bahn, in der Bibliothek, im Restaurant, ja selbst in Klassenzimmern richten Schüler ihre Smartphones aus. Knapp 400 Millionen schauen sich diese Übertragungen an. Anfangs wurde vor allem gesungen oder gerappt, inzwischen klicken immer mehr Chinesen auf Liveschalten von Landwirten, sie wollen wissen, woher ihre Lebensmittel stammen und wie sie zubereitet werden.

Nach Schätzungen des führenden Plattformbetreibers Kuaishou bewerben bereits mehr als eine Million Bauern ihre Produkte per Video. Etwa 19 Milliarden Yuan (umgerechnet 2,4 Milliarden Euro) Umsatz haben sie im vergangenen Jahr per Livestream gemacht.

Bestellt wird im Wesentlichen auf zwei Kanälen: entweder per Wechat, wie bei Bauer Dafei, oder über Taobao, der wichtigsten Plattform des Onlinehändlers Alibaba. 2003 als Ebay-Klon gestartet, gibt es fast nichts, was man nicht bei Taobao kaufen könnte. Vom eingelegten Rettich, über Hochzeitskleider bis hin zu kompletten Autos.

Bezahlt wird stets mit Alipay, dem Online-Bezahlsystem von Alibaba. Statt eines Bankkontos reicht ein Smartphone. Statt eines Geschäfts in der Innenstadt genügen einige Produktfotos und ein paar Zeilen bei Taobao. Geliefert wird per Kurier. Innerhalb weniger Tage. Mehr als 50 Prozent aller Pakete, die täglich in der Volksrepublik verschickt werden, gehen auf eine Alibaba-Website zurück - es sind Millionen Sendungen jeden Tag. In jeder chinesischen Stadt kann man die Kurierfahrer umherkurven sehen, mit ihren verbeulten Elektrodreirädern.

Angefangen hat alles 2006. Damals eröffnete im Dorf Dongfeng in der ostchinesischen Provinz Jiangsu ein erstes Taobao-Geschäft. Einen Kurierdienst gab es damals noch nicht. Man musste mit dem Motorrad fahren in den nächsten größeren Ort- 60 Kilometer über bucklige Pisten. Das Pro-Kopf-Nettoeinkommen betrug etwa 2000 Yuan im Jahr. Inzwischen sind mehr 2000 Online-Shops in Dongfeng registriert, dazu knapp 400 Möbelfabriken und gleich mehrere Versandfirmen. Das Durchschnittseinkommen beträgt heute mehr als 25 000 Yuan.

Aus Dongfeng ist ein sogenanntes Taobao-Dorf geworden. 4310 gibt es davon in China. Und das funktioniert so: Ein Dorfbewohner gründet ein kleines Unternehmen und vertreibt seine Produkte auf Taobao. Der Bedarf steigt, immer mehr Leute aus dem Ort finden Arbeit. Sie bleiben in der Heimat, statt wegzuziehen. Das Handelsministerium in Peking schätzt, dass bereits mehr als 30 Millionen Chinesen auf dem Land von und mit Taobao leben. Die Digitalisierung der ländlichen Gebiete, E-Commerce als Chance für strukturschwache Gebiete - chinesische Unternehmenliegen da weit vorne. Ein Geschäftsmodell, das sich auch in Indien, Indonesien oder auf dem afrikanischen Kontinent ausbreiten könnte. Ein Milliarden-Markt, für den Facebook, Google, Apple und all die anderen Konzerne aus dem Silion Valley bislang nichts zu bieten haben.

© SZ vom 18.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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