China:Im Reformstau

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Ob Cartier oder Louis Vuitton, in Shanghai gibt es viele Luxusshops. Dort einzukaufen können sich aber die wenigsten Chinesen leisten. (Foto: Qilai Shen/Bloomberg)

Weil die Wirtschaft immer langsamer wächst, gerät die Regierung mit der versprochenen Liberalisierung in Verzug. Das schadet den Armen.

Von Marcel Grzanna, Shanghai

Der Händedruck in Singapur war für Chinas Staatschef Xi Jinping ein Erfolgserlebnis - eines der wenigen in den vergangenen Monaten. Das Treffen mit dem taiwanischen Präsidenten Ma auf neutralem Boden hinterließ bei vielen einen positiven Eindruck, ganz so, als verharrten die Erzfeinde nicht länger in ewiger Feindschaft, sondern als gingen sie aufeinander zu. Endlich.

Fortschritte bei wichtigen politischen Themen sind selbst für den autoritär regierenden Parteivorsitzenden Xi keine Selbstverständlichkeit. Der Reformprozess, der mehr Wettbewerb bringen und den Staat bei Eingriffen in die Wirtschaft zurückhalten soll, enttäuscht bisher viele Erwartungen. Statt wie versprochen an Tempo zuzulegen, schaltet Peking nun sogar einen Gang zurück - der Druck auf die Konjunktur des Landes bremst die Verantwortlichen.

Nicht nur ausländische Unternehmen werden ungeduldig, schließlich kostet sie die starke Regulierung durch den Staat viel Geld. Auch Chinas Ökonomen und Analysten dringen auf eine schnellere Liberalisierung des Systems, weil nur steigender Wettbewerb die Disziplin der Manager und damit die Effizienz der staatlichen Unternehmen steigern könne. Die Regierungen in Europa und den USA wiederum hoffen auf eine zügige Neustrukturierung, weil sie sich natürlich Impulse für ihre eigene Konjunkturen erwarten.

"Es sind schwere Zeiten für Reformen", sagt Bian Yupeng von der Sublime China Information Group aus der Küstenprovinz Shandong, die Datensätze aus verschiedenen Wirtschaftszweigen erstellt. Das Land ist immer noch schwer abhängig von der Lage auf dem Immobilienmarkt und den davon abhängigen Schwerindustrien wie Stahl oder Zement. Staatseigene, überbürokratisierte und oft ineffiziente Unternehmen bestimmen weiterhin die konjunkturelle Entwicklung. "In diesen Bereichen ausgerechnet jetzt marktwirtschaftlichen Wettbewerb zu fördern, während die Wachstumsraten so unter Druck sind, ist sehr gefährlich", glaubt Analyst Bian.

Die soziale Stabilität des Landes ist in Gefahr. Die Einkommen der Menschen sind viel zu niedrig

Die Diskussionen über Reformen in China ziehen sich seit Mitte der Neunzigerjahre hin. Bis vor wenigen Jahren fanden es viele nicht so schlimm, dass es beim Gerede blieb. Aber jetzt drängt die Zeit. Die Wirtschaftsleistung der zweitgrößten Volkswirtschaft wird jedes Jahr schwächer. Sie mag für einzelne Unternehmen immer noch attraktiv genug sein, um Wachstum für das eigene Geschäft zu generieren. Doch die soziale Stabilität des Landes ist mit Wachstumsraten auf einem Niveau der Industrienationen nicht vereinbar. Die Einkommen sind viel zu niedrig. Deswegen müssen Sektoren umgebaut und neu organisiert werden, um die Entwicklung künftiger Wachstumsgaranten nicht noch weiter zu verzögern. Und auf allem lastet eine wachsende Schuldenlast als Folge der fast bedingungslosen Kreditvergabe an staatliche Institutionen nach Ausbruch der Finanzkrise 2008.

Bereits Ende September traf sich Staatspräsident Xi mit hochrangigen Vertretern des Finanzministeriums und der Nationalen Entwicklungskommission NDRC zu einer Lagebesprechung, bei der Für und Wider des Reformprozesses auf den Tisch kamen. Nach einem Bericht des Wall Street Journal s seien sich die Teilnehmer einig darüber gewesen, dass es nur sehr schwer möglich sei, die Wirtschaft weiter zu liberalisieren, wenn man an einem Wachstumsziel von sieben Prozent wie für das Jahr 2015 festhalten wolle.

Als Konsequenz formulierte Xi Ende Oktober nach den Beratungen zu den Inhalten des kommenden Fünfjahresplans von 2016 bis 2020 ein neues Ziel: 6,5 Prozent Wachstum sollen es in Zukunft sein, um auch den Reformbemühungen gerecht werden zu können. Dieses Tempo werde gerade noch ausreichen, um bis zum Ende des Jahrzehnts die Verdoppelung der Einkommen seit 2010 realisieren zu können. Das neue Ziel werde auch für genügend zusätzliche Arbeitsplätze sorgen - die das Land dringend braucht, will es Jahr für Jahr seinen Millionen Uniabsolventen eine berufliche Perspektive bieten. Analysten halten es dennoch für ein sehr optimistisches Ziel, das allenfalls mit entsprechenden Investitionsprogrammen erreicht werden könne.

Auf dem Finanzsektor hat es schon einige Veränderungen gegeben, aber das reicht nicht

Viel mehr Zugeständnisse kann Xi aber nicht machen, wenn er die marktwirtschaftliche Neuausrichtung der chinesischen Wirtschaft vorantreiben will. Man stehe vor riesigen Problemen, hieß es. "Es ist zweifelhaft, ob jeglicher positiver Effekt eines Reformvorhabens in absehbarer Zukunft auch in wirtschaftliches Wachstum transformiert werden kann", zitiert das Wall Street Journal einen der Anwesenden des September-Treffens.

Bisher jedenfalls gab es keine Erfolgserlebnisse. Auf dem Finanzsektor hat es zwar einige markante Veränderungen gegeben, das Zinsmonopol bröckelt zusehends, der Anleihenmarkt entwickelt sich weiter, und ab dem Jahr 2020 soll die Landeswährung Renminbi frei konvertierbar sein. Doch weder konnten dadurch andere schwächelnde Bereiche oder der Export entlastet werden, noch ist eine Reform des Finanzwesens ausreichend genug, um dauerhaft nachhaltig die Konjunktur anschieben zu können.

Ergänzende politische Reformen wie das Ende des strengen Hukou-Systems, das den Bürgern je nach Geburtsort unterschiedliche Sozialleistungen garantiert, stehen dagegen immer noch aus.

Als schwierig entpuppt sich die Modernisierung der staatseigenen Firmen, die privaten Unternehmen fast das gesamte auf dem Markt befindliche Finanzierungskapital wegschnappen, die aber deutlich weniger profitabel sind. Ihre schiere Größe macht sie zu Leistungsträgern, allerdings zu einem hohen Preis. "Die Verschmelzung der staatseigenen Unternehmen gestaltet sich sehr schwierig, weil die unterschiedlichen Administrationen zusammengeführt werden müssen, aber alle unterschiedliche Interessen verfolgen", sagt Analyst Bian. Wenn die Reformen aber ausbleiben, wird Chinas Wirtschaft langfristig nicht in der Lage sein, Wohlstand für alle zu generieren.

© SZ vom 16.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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