Bruchlandung einer Illusion:Warum das neue Preissystem scheiterte

Lesezeit: 3 min

Wie gerne hätte die Eisenbahn abgehoben. Wäre aus dem Bahnhof gerollt, hätte beschleunigt und wäre dann aufgestiegen, um noch einmal in weiß und rot aufzuleuchten und dann im Gewölk zu verschwinden.

Thomas Steinfeld

(SZ vom 21.05.2003) — Seit den fünfziger Jahren, seit dem Bau des TransEuropaExpress und der Einführung des Großraumwagens hatte die Eisenbahn an diesem Traum gearbeitet, den Wettbewerb mit dem Flugzeug aufnehmen und gewinnen zu können.

Vom Flugzeug übernahm sie die unpraktische Anordnung der Sitze, den schlechten Service und das falsche Deutsch: "Wir befinden uns in der Anfahrt auf München Hauptbahnhof."

Kapitaler Dirigismus

Vom Flugzeug übernahm sie zuletzt auch die Anmaßung, der Reisende habe sich auf die Bedingungen seines Verkehrsmittels einzustellen - anstatt umgekehrt danach zu fragen, wie es das Verkehrsmittel dem Reisenden recht machen könnte.

"Das neue Preissystem" hieß diese Anmaßung, und es lief auf eine gigantische Erziehungsmaßnahme, auf die Umschulung von halb Deutschland, auf einen kapitalen Dirigismus hinaus.

Am Dienstag musste die Bahn zugeben, bei diesem jüngsten Versuch einer Himmelfahrt krachend auf die Gleise zurückgestürzt zu sein. "Die Bahn hat sich verkalkuliert", sagte Verkehrsminister Stolpe, und die beiden heftigsten Verfechter des neuen Preissystems im Vorstand der Bahn müssen das Unternehmen verlassen.

Dabei geht es weniger ums Rechnen als um einen Idealismus. Das Flugzeug - das war der große Traum von der Selbstveredelung der Bahn durch Leichtigkeit, Schnelligkeit und Eleganz.

Und es symbolisierte die Verachtung für den Dreck zwischen den Schienen, die Gebundenheit an die Erde und die physische Schwerfälligkeit des Fahrens auf Gleisen.

Was für ein Irrtum, und welche Blindheit gegenüber der Schönheit dieses Materials! Denn nicht mit dem Flugzeug konkurriert die Eisenbahn, sondern mit dem Automobil, sie ist der Straßenbahn ähnlicher als der Rakete. Anstatt den Zeitensprung zu vollenden, fällt die Bahn nun ihre Zeit zurück. Um so besser für die Reisenden.

Hartmut Mehdorn, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn, darf nun noch fünf Jahre im Amt bleiben. Dabei träumte er besonders heftig von der Selbstbefreiung seiner Züge.

Wenn Winterstürme den Eisenbahnverkehr zum Erliegen brächten, maulte er vor wenigen Monaten, so werde dafür seine Firma verantwortlich gemacht.

Wenn sich aber auf der verschneiten Autobahn lange Staus bildeten, sei bloß das Wetter schuld. Der Mann, so muss man sagen, hat das Produkt seines Unternehmens nicht verstanden.

Denn das Auto ist ein Vehikel des Individualismus und der Spontaneität, es ist das Verkehrsmittel des modernen Subjekts, und wenn dessen Einzelgängertum an seinen Voraussetzungen scheitert, dann gibt es mehr dazu nicht zu sagen. Die Eisenbahn aber fährt nach Plan, sie ist eine kollektive Technik im doppelten Sinne des Wortes, und sie darf sich nicht darüber wundern, wenn sie als gesellschaftlich geschaffene und gesellschaftlich verfügbare Materie behandelt wird.

Während also bei der Bahn die wunderlichsten Vorstellungen kursieren, wofür sie eigentlich da sei, haben ihre Konkurrenten die strukturelle Schwäche des Schienenverkehrs allzu gut verstanden.

"Taxi nach Köln" heißt der Slogan eines Billigfliegers auf Plakaten in Berlin - "Taxi", wohlgemerkt, nicht "Schnellzug", denn auch ein Taxi verheißt Spontaneität, während jeder Bezug auf die Bahn gegenwärtig nur unangenehme Assoziationen an die so kläglich gescheiterte Heuchelei wachruft, den Zwang zur langfristigen Planung einschließlich empfindlicher Strafe bei unentschuldigtem Fernbleiben von der Bahn als besonders günstigen Rabatt zu verkleiden.

Für solche Lügen ist die Deutsche Bahn zwangsläufig von ihren besten Kunden, eben den modernen Subjekten, den spontan, oft geschäftlich und meistens teuer Reisenden, bestraft worden. Solche Leute kann man nicht mit der Aussicht auf verbilligte Gruppenreisen locken - in ihren Ohren klingt das Angebot zu sehr nach türkischem Sammeltaxi.

Die alte Sehnsucht nach Bahn

Ganz zu schweigen davon, dass es mittlerweile viele Firmen gibt, die frühzeitig die Kontingente durch Frühbuchung verbilligter Plätzen aufkaufen - um so zu versuchen, Preisvorteil und Spontaneität zu verbinden, worauf die meisten Sessel dann doch leer bleiben.

Wollte also die ökonomisch wie ökologisch allen anderen Verkehrsmitteln überlegene Bahn tatsächlich versuchen, ein erfolgreiches Unternehmen zu werden, so müsste sie endlich aus dem Traum vom Fliegen aufwachen und sich ihren tatsächlichen Wettbewerbern stellen. Vor allem müsste sie auf den Gedanken verzichten, ihre Reisenden wie langfristig angekündigtes Sperrgut verstauen und verschicken zu wollen.

Hartmut Mehdorn beschwert sich, die Bahn werde gegenwärtig für alles und jedes verantwortlich gemacht, sie werde wie ein universell Schuldiger behandelt. Er sollte nicht jammern, sondern sich darüber freuen.

Tatsächlich interessiert sich in diesem Land fast jeder für die Eisenbahn, und dafür gibt es einen handfesten Grund. Denn in dem allgegenwärtigen Geschimpfe verbirgt sich die alte Sehnsucht nach der Eisenbahn als dem idealen sozialen Verkehrsmittel einer industriellen Gesellschaft moderner Individuen.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: