Britisches Gesundheitswesen:Chronische Krise

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Der staatliche Gesundheitsdienst im Königreich ist eine Art Nationalheiligtum. Doch die Wartelisten für Operationen werden immer länger. Die Opposition verspricht im Wahlkampf zusätzliche Milliarden Pfund.

Von Björn Finke, London

Theresa May stärkt sich beim Wahlkampf. Am Montag versprach sie, Rechte der Arbeitnehmer auszuweiten. Die Labour-Partei will mehr Geld in den Gesundheitsdienst stecken. Nötig hat er es. (Foto: Carl Court/Getty)

Es wäre ein historischer Streik: In Großbritannien drohen Krankenschwestern und Pfleger, im Herbst die Arbeit niederzulegen, sollte die Regierung bis dahin keine kräftigen Gehaltserhöhungen genehmigen. So etwas Revolutionäres hat der altehrwürdige Krankenschwesternverband, das Royal College of Nursing, noch nie in seiner 101-jährigen Geschichte gewagt. Doch der Frust ist groß; der NHS, der staatliche Gesundheitsdienst, steckt in der Krise. Mal wieder. Oder weiterhin.

Das nutzen die Oppositionsparteien weidlich aus. Beim Jahrestreffen der Schwestern und Pfleger in Liverpool sprach am Montag Tim Farron, Chef der Liberaldemokraten, und klagte, die konservative Regierung von Theresa May behandele die Angestellten des National Health Service "wie Dreck". Jeremy Corbyn, der Vorsitzende der größten Oppositionspartei Labour, verkündete dort, er wolle im Falle seines Wahlsiegs bis zum Jahr 2022 insgesamt 37 Milliarden Pfund zusätzlich in den NHS stecken. Auch die Computersysteme sollten mit dem Geldsegen verbessert werden, sagte er. Keine schlechte Idee: Am Wochenende legte der Virus "Wanna Cry" viele Rechner in Krankenhäusern lahm.

In gut drei Wochen wählen die Briten ein neues Parlament, und Premierministerin May kann mit einer komfortablen Mehrheit rechnen. Sie stilisiert die Abstimmung zu einer Entscheidung über die Brexit-Strategie und über den Regierungschef. Großbritannien brauche eine "starke und stabile" Führung, wiederholt sie ohne Unterlass - und meint damit, dass Großbritannien Theresa May brauche. Corbyn hingegen sei ein Hallodri. Die Opposition versucht, auch über andere Themen Debatten anzustoßen. Und der NHS eignet sich dazu ganz vorzüglich.

Denn für die meisten Briten ist dieser staatliche Gesundheitsdienst, der direkt nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt wurde, eine Art Nationalheiligtum. Sie sind stolz darauf, dass in ihrem Land jeder kostenlos behandelt wird, ohne Versichertenkarte, ohne Versicherungsbeiträge, ohne Praxisgebühr. Das System wird aus dem Staatshaushalt finanziert, also aus Steuereinnahmen. Das ist zugleich ein Grund für die Probleme. Denn Ausgaben für Krankenschwestern konkurrieren so mit Investitionen in Flugzeugträger, Autobahnbrücken oder Polizeiwachen.

Immer mehr Briten werden immer älter: Dieser demografische Wandel beschert Ärzten mehr Arbeit. Zugleich entwickeln Forscher viele neue Therapien, die Leiden lindern, aber leider auch teuer sind. Doch Regierungen jedweder Colour gewähren zusätzliches Geld immer nur in homöopathischen Dosen; schließlich belasten solche Ausgaben den Staatshaushalt. Deswegen macht der NHS seit Jahrzehnten Schlagzeilen mit langen Wartelisten für Operationen, die nicht dringend sind, oder mit Geschichten von Patienten, deren Betten in überfüllten Krankenhäusern auf dem Flur stehen.

Allerdings attestieren Gesundheitsökonomen dem Königreich, dass das System im internationalen Vergleich sehr effizient ist. Die Briten geben recht wenig aus, doch bei Lebenserwartung und Therapieerfolgen hält das Land gut mit anderen Staaten mit. Nach Berechnungen der Weltbank betragen die staatlichen Gesundheitsausgaben Großbritanniens 9,1 Prozent der Wirtschaftsleistung. In Deutschland sind es 11,3 Prozent, in den USA 17,1 Prozent. Trotzdem werden die Untertanen Ihrer Majestät im Durchschnitt älter als Amerikaner.

Das ist aber nur ein schwacher Trost für jene Briten, die zig Stunden in einer Notaufnahme oder Monate auf ihre Hüftoperation warten. Zuletzt häuften sich die schlechten Nachrichten aus den Arztpraxen und Kliniken des Königreichs. Kein Wunder, dass die Opposition das Thema begierig aufgreift.

So sollen Patienten in Notaufnahmen nicht länger als vier Stunden warten müssen. In den vergangenen zwölf Monaten wurde diese Marke allerdings bei 2,5 Millionen Patienten überschritten - der schlimmste Wert, seit diese Daten 2003 erfasst werden. Operationen, die nicht dringend sind, sollen innerhalb von 18 Wochen stattfinden. Doch im Moment warten gut 362 000 Briten schon länger auf ihren Eingriff, mehr als doppelt so viele wie vor vier Jahren. In den kommenden drei Jahren werde sich dieser Wert noch einmal verdoppeln, wenn die Politik nicht gegensteuere, sagen Fachleute.

Zugleich droht ein Mangel an Pflegepersonal. Um zu sparen, hat die Regierung festgelegt, dass die Gehälter im öffentlichen Dienst höchstens um ein Prozent im Jahr steigen dürfen. Das erzürnt die Krankenschwestern. Kliniken warnen, dass sie sich schwertun, Pflegestellen zu besetzen. Zumal die Unsicherheit wegen des Brexit dazu führt, dass weniger Fachkräfte aus der EU ins Land kommen.

Egal wie die Wahlen im Juni ausgehen: Der NHS bleibt ein Dauerpatient.

© SZ vom 16.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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