Brainlab:Tiefer in den Körper

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Mixed Reality: Mit einer VR-Brille kommen die Ärzte von morgen dem Menschen und seinem Innenleben näher als jeder Kollege alter Schule. (Foto: oh)

Eigene Tracking-App, Temperaturkiosk im Foyer, Operieren mit Mixed Reality: Der digitale Klinik-Ausstatter Brainlab nutzt die Corona-Krise, um Produkte zu entwickeln.

Von Marc Beise, München

Den meisten Spaß hatte der Chef abends selbst. Es war fast ein bisschen wieder so wie damals, als der Vilsmeier Stefan aus dem oberbayerischen Städtchen Poing die Firma Brainlab gegründet hat, 1989 war das. Der Informatik-Autodidakt und Studienanfänger hatte bereits ein erfolgreiches Fachbuch über 3D-Grafik im Markt, und mit 150 000 Mark aus den Verkaufserlösen machte er, 21-jährig, die Digitalisierung von Operationsräumen zu seinem Geschäftsmodell, oder konkreter: Es ging um Software, die Ärzten einen detaillierten räumlichen Blick in den Körper des Patienten ermöglicht.

Nach wenigen Wochen brach Vilsmeier das Studium ab, nach wenigen Jahren konnte er die ersten Geräte für die exakte Behandlung von Tumoren ausliefern. In 30 Jahren ist daraus ein veritabler Mittelständler gewachsen, mit einer sehr schicken neuen Unternehmenszentrale auf dem Gelände des ehemaligen Münchner Flughafens im Stadtteil Riem. 750 Mitarbeiter sind hier, der denkmalgeschützte Fluglotsentower hat Konferenzsäle und eine Partyebene ganz oben.

Brainlab ist mit Hardware und Software für das bildgesteuerte Operieren sowie für die Strahlentherapie in Kliniken in der ganzen Welt ein Begriff, in 5500 von 7000 dafür geeigneten Krankenhäusern findet sich seine Technik, sagt Vilsmeier, heute 52, weltweit knapp 1500 Mitarbeiter erwirtschaften einen Umsatz von rund 300 Millionen Euro. Das Doppelte sei drin, sagt Vilsmeier, auch ohne den vor 20 Jahren wegen des damalig schlechten Finanzumfeldes abgesagten Börsengang. Vor Corona ist auch das Medizinunternehmen nicht gefeit, das Virus hat die Mitarbeiter erst - von einem Tag auf den anderen - komplett ins Home-Office getrieben, jetzt kehren sie langsam wieder zurück.

Als die Regierung noch zögerte, baute das Unternehmen bereits seine eigene Corona-App

Das Unternehmen hat entsprechende Vorsichtsmaßnahmen getroffen, im Firmenrestaurant trennen Plexiglasscheiben die gegenüber sitzenden Esser, alle halbe Stunde läutet ein Gong zum Schichtwechsel, die gesamte Kundschaft muss gehen, die nächste Gruppe kann eintreten. In den Fahrstühlen ist Overheadfolie über die Tasten montiert, die man leicht abwischen kann. Diese Idee hat der Chef aus Asien mitgebracht, wo er das 2002 beim ersten Sars-Ausbruch gesehen hatte.

Im Eingangsbereich steht ein Kiosk, an dem sich jeder Mitarbeiter die Temperatur messen lassen kann, das Ergebnis wird via QR-Code aufs Handy gespielt. Dort befindet sich bei vielen Mitarbeitern auch eine Corona-Tracking-App. Eine Corona-App ist gerade auch bundesweit eingeführt worden von der Bundesregierung. Mag sein, aber Bainlab hat längst seine eigene Software. Noch in einer Betaversion, weil Apple und Google sich noch sträuben, die App in ihre App Stores zu übernehmen, trotzdem haben bereits deutlich mehr als die Hälfte der Mitarbeiter zugegriffen, freiwillig und unverbindlich.

Anders als bei der Regierungs-App geht es nicht in erster Linie darum, im Falle einer Covid-19-Erkrankung - die in München-Riem noch nicht vorgekommen ist - die Besitzer der anderen Handys zu informieren, die dem Infizierten nahe gekommen sind. Die Brainlab-Lösung kann vor allem genau lokalisieren, wo sich der Besitzer des Handys aufgehalten hat: im Gym, im Firmenrestaurant, in einem der Büros. Entsprechend können dort Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden - statt dass man die ganze Belegschaft nach Hause schicken muss. Dazu nutzt die App Bluetooth, unter vielen Tischen befindet sich ein kleiner Sender, der die exakte Lokalisierung der Bewegungen ermöglicht. Eine Rüttelapplikation im Handy erkennt und zeichnet auf, wenn der Träger wiederholt und stärker hustet. Das System arbeitet über Wlan, schaltet sich also beim Verlassen des Firmengebäudes automatisch ab. Die Auswertung der Daten bei Bedarf erfolgt durch den Betriebsarzt und nur mit dem Einverständnis des Mitarbeiters.

Dem Datenschutz sei damit Genüge getan, sagt Vilsmeier.

Für ihn ist das ein Beispiel dafür, wie sein Unternehmen ticken soll: immer neugierig, bereit, aus einer konkreten Situation eine Idee zu entwickeln, die erst Hobby sein mag, sich dann aber womöglich vermarkten lässt. Das Interesse anderer Unternehmen sei groß, sagt Vilsmeier. Von der Idee einer solchen App bis zur Umsetzung ging es ganz fix. Erst wurden sechs Programmierer an das Thema gesetzt, dann noch ein paar, und abends rief dann gerne der Chef an, wo das Team gerade stehe. Pionierstimmung fast so wie damals also, als die Firma ihre ersten Schritte machte.

Die Tracking App ist eine kleine Erweiterung des Firmenhorizonts, zunächst nicht mehr als eine Spielerei, aber sie passt gut zur DNA von Brainlab, dem es auch im Operationssaal um konkrete Standortbestimmung geht. Darum, was an einem bestimmten Ort im Körper des Patienten geschieht und geschehen soll.

Kaum etwas ist so analog wie die Chirurgie. Darin sieht Stefan Vilsmeier seine Chance

Das Handy mit der App liegt auf dem Tisch, die großen Dinge findet man im Keller. Dort unten, versteckt hinter dem Schulungsraum für digitalisierte OP-Säle, kommt man auf verwinkelten Wegen und durch eine Sicherheitsschleuse mit Gesichtserkennung in einen Bereich, wo sie am neuesten Produkt aus dem Hause Brainlab arbeiten, Stichwort: Mixed Reality.

Unter dem Begriff werden Systeme zusammengefasst, die die natürliche Wahrnehmung eines Nutzers mit einer computergenerierten, also künstlichen Wahrnehmung vermischen. Allgemein bekannter ist die Virtual Reality, bei der der User komplett in eine künstliche Welt abtaucht und beispielsweise mittels einer komplett abgeschlossenen VR-Brille in die Aura eines Computerspiels eintaucht. Bei Augmented Reality dagegen steht noch die Wirklichkeit im Vordergrund, die dank der Software künstlich erweitert wird; als Beispiel werden gerne herkömmliche Brillen genannt, auf die aber Informationen wie etwa der Einkaufszettel projiziert werden könne. Die gemischte Realität, wie sie bei Brainlab jetzt verstärkt genutzt wird, liegt, wie der Namen schon sagt, irgendwie dazwischen.

Der Arzt setzt eine VR-Brille auf, beigesteuert vom amerikanischen Mixed-Reality-Spezialisten Magic Leap, er sieht einerseits die wirkliche Umgebung, nämlich den vor ihm auf dem OP-Tisch liegenden Patienten, er kann aber gleichzeitig auch virtuell in ihn hineingucken - weil alle Daten, die beim MRT und anderen Behandlungen gewonnen worden sind, kombiniert und in die Brille übertragen werden.

Seit 2018 arbeiten sie hier im Keller in München-Riem an dem Projekt, bald wird es den Hochsicherheitstrakt ganz verlassen können. Mittlerweile sind die entscheidenden medizinischen Zulassungen erfolgt, und mehr als 80 Systeme sind bereits verkauft. "Das erste Feedback aus der Praxis ist positiv", sagt Vilsmeier, und er sieht zahlreiche Anwendungsfelder für die neue Technik.

Von den Anfängen der Firma, als Chirurgen noch überzeugt werden mussten, dass es nicht ehrenrührig ist, sich auf mehr als die eigenen Hände und das eigene Auge zu verlassen, bis in diese neue Welt des Operierens war es ein weiter Weg - und für Vilsmeier soll er noch lange nicht zu Ende sein. Als nächstes schwebt ihm eine Plattform vor, auf der alle medizinischen Daten vernetzt werden können und auf die viele Unternehmen zugreifen können, die in einem bestimmten Bereich - Wirbelsäule, Herz, Gehirn - ihre Produkte anbieten.

Der Umgang mit medizinischen Daten", sagt Vilsmeier, gehöre zu den größten gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen und Chancen der nächsten Jahre: "Die Digitalisierung wird unser Gesundheitssystem und unsere medizinischen Methoden von Grund auf verändern. Was wir hier bei Brainlab sehen, ist erst der Anfang."

© SZ vom 24.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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