Jedes Jahr am 4. Juni wird Chinas Parteiführung nervös. Ohne Passkontrollen dürfen ausländische Korrespondenten in Peking dann nicht mehr ins Zentrum der Stadt. Den Platz des Himmlischen Friedens direkt vor dem Eingang zur Verbotenen Stadt sperrt die Polizei meistens komplett ab. Seit 23 Jahren ist das nun so.
Am 4. Juni 1989 walzten Panzer der Volksbefreiungsarmee auf dem Platz Studentenproteste nieder, Hunderte starben im Kugelhagel. Chinas staatliche Behörden verschweigen seitdem Jahr für Jahr, was damals passierte. In der Schule, im Geschichtsunterricht ist das Tian'anmen-Massaker kein Thema, in den Zeitungen oder im Fernsehen wird der 4. Juni mit keinem Wort erwähnt. Zu groß ist die Angst, ein nationales Idol zu beschädigen.
Den Schießbefehl gaben 1989 Funktionäre wie Deng Xiaoping. Deng wird in China hoch verehrt. Er war es, der China nach der Kulturevolution öffnete, die Volksrepublik wieder an die Weltwirtschaft ankoppelte. An jeder Uni Chinas müssen die Studenten seitdem die Theorien Deng Xiaopings lernen.
Wer gegen die staatliche Omerta verstößt, bekommt Ärger. Selbst kleinste Andeutungen bestrafen die Behörden drakonisch. Eine unscheinbare Anzeige im Kleinrubrikenteil einer Zeitung führte vor einigen Jahren zur Entlassung der gesamten Chefredaktion. Noch härter traf es den Wirtschaftsjournalisten Shi Tao. Er wurde zu mehreren Jahren Haft verurteilt, weil er eine Direktive, aus der hervorging wie sich Chinas Journalisten am 15. Jahrestag des Massakers zu verhalten haben, per E-Mail an eine Menschenrechtsorganisation weiter geleitetet hatte.
Seit einigen Jahren lassen Chinas Behörden Anfang Juni nicht nur Peking absperren, sie patrouillieren auch Online. Staatliche Zensoren überwachen das chinesische Internet, vor allem den populären Kurznachrichtendienst Weibo. Schon seit Tagen ist es dort nicht mehr möglich das Datum "4.6." in einer Kurznachricht zu veröffentlichen, auch die Zahl "23" ist in diesem Jahr gesperrt. Chinas Blogger behelfen sich mit mathematischen Kniffen. Statt vom 4. Juni zu schreiben, bezeichnen sie den Tag des Massakers oft als "35. Mai."
Im kommenden Jahr werden Chinas Behörden wohl auch die Börse genauer beobachten und notfalls mit Steuergeldern den Kurs manipulieren müssen - dem Staat zum Wohl. Denn just am 4. Juni, dem 23. Jahrestag, passierte - wahrscheinlich durch Zufall - Ungeheuerliches auf dem Shanghaier Parkett. Der Leitindex eröffnete mit 2346,98 Zählern - die diesjährigen Schlüsselzahlen hintereinander. Doch damit nicht genug: Am Ende des Tages notierte der Index 64,89 Punkte niedriger als am Vortag und zeigte zum zweiten Mal eine verbotene Zahlenkombination an.
Bereits wenige Minuten nach Kursschluss brachen im chinesischen Internet die wildesten Gerüchte los. Eine geschickte Manipulation des Index? Wer steckt wohl dahinter?, fragten viele. Die staatlichen Zensoren reagierten prompt. Sie löschten unzählige Kommentare und sperrten den Begriff "Shanghaier Börse".
Nach dem Tian'anmen-Massaker ist die "Shanghaier Börse" nun das zweite Schlagwort auf dem staatlichen Index, das es ohne Deng überhaupt nicht gäbe. Immerhin war es die Öffnungspolitik des Alten, die zur Gründung der Börse führte.