Bekleidung:Oh, Mann

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Die Herren der Schöpfung haben nicht alle Idealmaße. Doch die Modeindustrie tut beharrlich weiter so, als sei Größe 50 für den schlanken 1,80-Kerl noch immer Standard. Warum nur?

Von Michael Kläsgen

Es gibt Männer, die tragen die Hose über dem Bauch, und andere, die tragen sie darunter. Klingt banal, ist aber "eine ganz zentrale Frage", sagt Simone Morlock. Anders ausgedrückt: Es ist das wohl anschaulichste Beispiel dafür, warum es den Modefabrikanten so schwer fällt, Männern, die große Größen benötigen, passende Kleidung zu schneidern. Der gleiche Typ Mann braucht, erklärt die Bekleidungsingenieurin, je nachdem, wie er die Hose trägt, einen ganz anderen Schnitt.

Das ist mehr als nur ein Randproblem. Schätzungen zufolge sind bis zu zwölf Millionen Menschen in Deutschland Große-Größe-Kunden, Tendenz steigend. Immer mehr Kinder zählen dazu. Männer brauchen heute im Schnitt zwei Konfektionsgrößen mehr als noch vor 30 Jahren. Ihr Brustumfang, und hierauf basiert die Konfektionsgröße, weitete sich um mehr als sieben Zentimeter, berechnete das Hohenstein Institut, an dem Simone Morlock seit 18 Jahren arbeitet.

Die Bekleidungsingenieurin hat Hunderte Männer, die große Größen benötigen, als Projektleiterin vermessen und gescannt. Das Hohenstein Institut in Bönningheim bei Heilbronn ist das führende Forschungszentrum in Deutschland für die Bekleidungsindustrie. Mithilfe der hier erforschten Grundlagen entwickeln Hersteller und Händler neue Produkte.

Morlock kennt sich natürlich auch mit Frauen aus. Im Unterschied zu den Männern hat in diesem Bereich aber schon vor einiger Zeit ein Umdenken eingesetzt. Was nicht bedeutet, dass jede Frau nach dem Klamottenkauf happy wäre. Die Umsetzung verläuft langsam, und Konfektionsgrößen sind keine verbindlichen Normen. "Jeder Hersteller, kann im Prinzip machen, was er will", sagt ein Händler.

Bei den Männern ist aber überhaupt erst vor zwei Jahren das erste Mal in der Geschichte der Bekleidungsindustrie eine Datenbasis zu großen Größen erstellt worden. Ein kleiner Schritt. Noch lebt die deutsche Herrenmode-Industrie in der Adenauer-Ära. Offiziell gelten die Größentabellen von 1960 und damit der Leitsatz: Je dicker, desto größer. "Doch das ist Quatsch", sagt Morlock. Damals galt die Größe 60 als groß, heute geht es bis Größe 78. Es gibt auch kleinere Beleibte. Die kurzen Größen stellen sogar den größten Marktanteil.

Modell vor dem 3-D-Scanner: Von vorn betrachtet hat der Mann meist die Form eines H, im Profil wird er etwas variantenreicher, je nachdem, wie es sich mit seinem Bauch verhält. Für die Modeindustrie ist das ein Problem. (Foto: Angela Mahr-Erhardt)

Der Mann entfernt sich also in jeder Hinsicht zunehmend vom bisherigen Standard, die Modeindustrie tut aber weiter so, als sei die Größe 50 für den schlanken 1,80-Mann das Maß aller Dinge. Vor allem südländische Designer ignorierten die Realität, klagt ein Händler. Deren Marketingabteilungen hielten es für imageschädigend, Mode auch in großen Größen herzustellen.

Ein großer deutscher Sportartikelhersteller habe sogar erklärt, große Größen seien "nicht vereinbar mit dem Sport" und passten "nicht zur Firmenphilosophie". In der Modewerbung wird Big&Tall so gut wie nicht abgebildet. "Wenn Sie 150 Kilo wiegen, dürfen Sie S-Klasse fahren, eine Rolex tragen", sagt ein Händler. "Nur mit der Kleidung können Sie sich nicht ganz so darstellen, wie Sie es wollen."

Dabei müssten, wenn fast jeder siebte Mann in Deutschland große Größen benötigt, alle zusammen, ökonomisch gesprochen, einen großen Markt bilden. Und in einer funktionierenden Marktwirtschaft müsste dort, wo Nachfrage herrscht, dieser auch ein Angebot gegenüberstehen. In dem Fall scheint die Sache aber komplizierter zu sein.

In einem ansonsten recht erfolgreichen Modehaus liegt seit nunmehr fünf Jahren ein XXL-Markenhemd, das einfach niemand kaufen will, obwohl es auf 19 Euro reduziert wurde. Der Markt leidet offenbar nicht nur unter einem Angebotsproblem, es hakt auch an der Nachfrage. Die potenziell zwölf Millionen Kunden stellen keine homogene Gruppe dar. Der XXL-Onlineshop Pfundskerl beispielsweise verabschiedete sich weitestgehend wieder von der Mode für Hochgewachsene, die knapp ein Viertel der Kunden von großen Größen ausmachen. Der Markt dafür, stellte sich heraus, ist einfach zu klein.

"Das Problem ist, dass die Körpervarianz bei großen Größen größer ist als beim Standard", sagt Morlock. Die Große-Größen-Träger sind zwar viele, ihre Körperformen sind aber unterschiedlich. "Die Hersteller können es einfach nicht allen recht machen." Der Mann hat zwar von vorn meist die Form eines H, im Profil wird er je nach Bauch aber variantenreicher. Nimmt man noch die unterschiedlichen Körperhöhen dazu, kommt man auf bis zu 25 verschiedene Varianten für nur eine Konfektionsgröße, von kurz, extra kurz und normal bis lang und extralang und so weiter.

Betriebswirtschaftlich rechnet es sich schon daher nur bedingt, für den Nischenmarkt zu produzieren. Hinzu kommt das schwierige Beziehungsgeflecht zwischen Hersteller und Händler. Die Beschaffung kostet mehr, es wird mehr Stoff verbraucht, der Ausschuss ist größer, die Volumen aber kleiner. Deswegen verlangen die Fabrikanten einen Mindestmengenaufschlag von bis zu zehn Prozent.

Insofern ist es nicht verwunderlich, dass vor allem Textil-Discounter auf dem Markt unterwegs sind wie Kik, Aldi oder Lidl und große Billiganbieter wie H&M oder C&A. Sie können den Wunsch der asiatischen Fabrikanten nach großen Stückzahlen befriedigen und halten das Ausfallrisiko gleichzeitig gering, indem sie nicht die ganze Bandbreit von großen Größen ordern. Wobei C&A nicht nur Händler, sondern Hersteller ist und so Kosten senkt.

C&A wächst in dem Bereich überdurchschnittlich. Die Kette führte früh XL-Shops ein und warb mit dem Schauspieler Rainer Hunold dafür. Es gibt noch andere Modehäuser, die die Lücke erkannt haben. Der Münchner Strafverteidiger Albrecht Göring, 63, 1,93 groß, Schuhgröße 45/46, geht gerne zu Hirmer, dem Herrenausstatter, der ein reichhaltiges Markenangebot aufgebaut hat. "Hier bist du nicht am Rande der Gesellschaft, weil du große Größen einkaufst", sagt er. Hirmer geht von den wenigen regionalen Anbietern, die Mode in großen Größen anbieten, am offensivsten damit um. Nicht nur, weil der Modehändler wie in München, eigene Etagen - Göring nennt sie "Jumbo-Abteilungen" - betreibt. Er hat zudem 15 Große-Größe-Filialen in Deutschland und Österreich und einen Onlineshop in tschechischer und neuerdings in polnischer und englischer Sprache eröffnet.

Nur eine Idee: eine Plattform für Große - mit Angeboten vom Auto bis zur Matratze

Andreas Bernkopf, der zuständige Geschäftsführer, könnte sich vorstellen, in Osteuropa irgendwann einmal auch Läden in Städten zu eröffnen, wenn das Onlinegeschäft gut läuft. Die Offensive ist das deutlichste Zeichen dafür, dass der Markt für große Größen mit Herren-Markenbekleidung in Bewegung kommt. Hirmer hat genügend Gewicht, um die Hersteller von dem Potenzial der Nische zu überzeugen.

Die dänische Bestseller-Gruppe zum Beispiel, die an dem deutschen Online-Modehaus Zalando beteiligt ist, bietet seit Kurzem mit der Marke Jack & Jones erstmals Übergrößen für die gesamte Kollektion an. "Die Verbraucher haben auf Übergrößen bei einer jungen Männerbrand gewartet", sagt eine Sprecherin, "die Nachfrage ist sehr groß." Ein weiteres Zeichen: Der Berliner Designer Michael Michalsky, (Noch-)Juror bei "Germany's Next Topmodel", wo nur ganz schlanke Mädchen eine Chance haben, präsentierte vor wenigen Wochen erstmals Mode in Übergrößen.

Und Hirmer-Geschäftsführer Bernkopf fände es eine richtig gute Idee, wenn sich Große-Größen-Anbieter aus den verschiedensten Bereichen von Autos, Reisen, Hotels über Matratzen und Schuhe auf einer Online-Plattform zusammentun und die Klientel "charmant ansprechen" würden.

Nach der bekleidungstechnisch übermäßig langen Adenauer-Ära tut sich was. "Die Herrenmode-Industrie", sagt Simone Morlock, "wacht langsam auf."

© SZ vom 04.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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