Bei uns in Rio:Küssen in der Krise

Lesezeit: 1 min

Die Brasilianer mögen keine guten Politiker, keine vernünftigen Innenverteidiger und kein Geld mehr haben. Aber im bunten, lauten Karneval zeigt sich: Ihren Humor, den haben sie noch. Und der macht einiges wett.

Von Boris Herrmann

In großen Teilen der Welt ist der Karneval bereits zu Ende, in Rio geht er in die Verlängerung. Am Samstag lassen sich bei der "Parade der Sieger" die besten Sambaschulen des Jahres noch einmal vor großem Publikum feiern. Moment mal: Feiern in Brasilien? War das nicht das Land, über dem die Pleitegeier und die Stechmücken kreisten? Man ist jedenfalls gut beschäftigt, wenn man die aktuellsten Krisen aufzählt.

Es gibt die Regierungskrise, die gleichzeitig eine Oppositionskrise ist, dazu kommen diverse Stechmückenkrisen, die Dengue-Krise, Chikungunya-Krise und natürlich die Zika-Krise, die allesamt ein Schlaglicht werfen auf die altbekannte Gesundheitsversorgungskrise sowie die Krisen der kommunalen Haushalte. Ferner gibt es die Wasserversorgungskrise, die Umweltkrise am Rio Doce und die sich wieder verschärfende Sicherheitskrise in den Favelas der Großstädte, ganz zu schweigen von der Ölpreiskrise, der Petrobras-Krise, der Eisenerzpreis-Krise und der chinesischen Nachfragenkrise, der Inflationskrise, der Krise des brasilianischen Real sowie der allgemeinen Wirtschaftskrise. Der hiesige Fußball ist auch nicht mehr das, was er einmal war. Wer derzeit nicht in Selbstzweifeln versinkt, kann eigentlich kein Brasilianer sein. Spätestens als das in Rio ansässige Forschungsinstitut Fiocruz auch noch eine "Kuss-Warnung" für die Karnevalssaison 2016 aussprach (weil Zika jetzt angeblich auch per Speichel übertragen wird), musste man mit dem Schlimmsten rechnen: mit Samba auf Sicherheitsabstand, mit einem Karneval, bei dem keiner mitmacht.

Tatsächlich sind ein paar VIP-Logen in Rios Sambódromo frei geblieben, eine bekannte Sambaschule hat aus finanziellen Gründen die Zahl der Tänzerinnen und Tänzer reduziert, das war's. Die brasilianische Feierlaune hat sich als extrem krisenresistent erwiesen. Bei den Straßenumzügen, den sogenannten "blocos", war alles so laut, fröhlich und voll wie immer. Natürlich haben sich viele geküsst. An der Copacabana feierten sogar Dackel mit Sonnenbrillen und Terrier mit Perücken, die nur unwesentlich alberner aussahen als ihre Herrchen. Es gab auch Umzüge für Mediziner und evangelikale Wunderheiler sowie: für schwangere Frauen. Nicht einmal die ließen sich den Spaß von Aedes aegypti vermiesen. Die Stechmücke ist in Rio trotzdem überall: als beliebtestes Kostüm, mit Flügelchen aus Pappe und selbst gebasteltem Stechrüssel. Die Brasilianer mögen keine guten Politiker, vernünftigen Innenverteidiger und kein Geld mehr haben. Aber ihren Humor, den haben sie noch. Und der macht einiges wett.

© SZ vom 12.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: