Bei uns in Rio:Ein Leben auf Raten

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In Brasilien kann man nahezu alles in mehreren Tranchen begleichen. Kein Wunder, dass viele verschuldet sind.

Von Boris Herrmann

In Rio kann man neuerdings auch Strafzettel in Raten abstottern. Das finden die Leute offenbar so großartig, dass die führende Boulevardzeitung der Stadt für diese Nachricht ihre Titelseite freiräumte. Ein besonders brasilianisches Gefühl von Freiheit muss das sein: Parke jetzt falsch, zahle irgendwann.

In Brasilien zu leben, heißt in vielen Fällen auf Raten zu leben. Nahezu alles, was sich mit Geld kaufen lässt, kann man in diesem Land in mehreren Tranchen (Portugiesisch: parcelas) begleichen. Fernseher, Computer, Handys, Möbel und Autos sowieso. Mintunter werden aber auch Finanzierungsmodelle Flip-Flops angeboten. Wer die rund fünf Euro nicht auf einen Schlag hinlegen will, kann auch fünf Monate lang je einen Euro von der Kreditkarte abbuchen lassen. Gut einen Euro, muss man korrekterweise sagen. Ein paar Cent an Zinsen kommen schon noch dazu. Bis die Schlappen dann abbezahlt sind, sind sie in der Regel schon wieder durchgelatscht. Aber das scheint die wenigsten zu stören.

In Brasilien werden auch längst verfahrene Tankfüllungen noch abbezahlt oder Parfüms, die bereits verduftet sind sowie Abendessen, die schon vor Wochen verdaut wurden. "Parcelado" einkaufen, das geht im Supermarkt, in der Apotheke, im Schönheitssalon, bei der Post. Manche Geschäfte locken ihre Kunden mit zinsfreien Ratenzahlungen, manche drehen die Sache auch um: Rabatt bei Sofortkasse ("à vista"). Im Warenhaus Kalunga gab es in der Adventszeit zum Beispiel Panettone-Weihnachtskuchen zum Stückpreis von umgerechnet 4,40 Euro - aber nur für Kurzentschlossene, die gleich den ganzen Kuchen in bar bezahlten. Kreditfinanzierung erst ab dem zweiten Panettone.

Muss man sich da wundern, dass viele Brasilianer heute hoffnungslos verschuldet sind? Bei der Serasa, der hiesigen Version der Schufa, sind nach Medienberichten die Steuernummern von fast der Hälfte aller erwachsenen Bürger gesperrt, weil sie ihre Limits überzogen haben. Gleichzeitig boomen schummrige Pfandhäuser, wo die Kunden Darlehen aufnehmen, um Darlehen abzubezahlen.

Dieser Wahnsinn begann Mitte des vergangenen Jahrzehnts, als Brasilien wie kaum ein anderes Land boomte, als Millionen das Gefühl hatten, der Armut entkommen zu sein, weil sie erstmals ein Konto eröffnen und wie Mittelschichtler konsumierten konnten. Einkaufen auf Pump wurde in dieser Zeit zum Fortschrittssymbol. In der gegenwärtigen Wirtschaftskrise rächt sich das. Der Bundesstaat Rio de Janeiro ist so pleite, dass er das gängige Ratenmodell auf seine Weise uminterpretierte. Zwischenzeitlich wurden die Gehälter und Pensionen seiner öffentlichen Angestellten auf mehrere Monate verteilt ausbezahlt.

© SZ vom 29.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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