Bei uns in London:Karneval und Märtyrer

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Am Wochenende findet das größte Straßenfest Europas statt, der Notting Hill Carnival. Nur 200 Meter entfernt vom abgebrannten Hochhaus Grenfell Tower. Außerdem ist ein Pilgerzug der Katholiken geplant - ein schauriges Kontrastprogramm.

Von Björn Finke

Es ist das größte Straßenfest Europas, mit bis zu zwei Millionen Besuchern jährlich: An diesem Wochenende, am Sonntag und Montag, beherrscht wieder der Notting Hill Carnival den Westlondoner Stadtteil. Bei dem karibischen Karneval tanzen Samba-Gruppen in farbenfrohen Kostümen hinter Lastwagen her, von deren Ladeflächen Boxentürme die Straßen infernalisch laut beschallen. In der Luft liegt der Geruch von jerk chicken, karibisch marinierten, gegrillten Hühnchen, und manchmal der von Marihuana und Urin. Öffentliche Toiletten sind knapp, weswegen einige geschäftstüchtige Anwohner ihre eigenen stillen Örtchen für einen bescheidenen Obulus von zwei oder drei Pfund zur Verfügung stellen.

Notting Hill ist heute schick und teuer, auch Ex-Premier David Cameron lebt dort, doch in den Sechzigerjahren, als die Sause zum ersten Mal stattfand, war es ein eher armes Viertel, in dem viele Einwanderer aus der Karibik hausten. In diesem Jahr wird das ausgelassene Spektakel von einer Tragödie überschattet - und das durchaus im Wortsinne. 200 Meter von der Paradestrecke entfernt ragt der Grenfell Tower wie ein schwarzer verfaulter Zahn in den Himmel. Mindestens 80 Menschen starben, als das Hochhaus mit Sozialwohnungen vor zweieinhalb Monaten abbrannte.

Die Außenverkleidung der Fassade war nicht feuerfest; die Verwaltung des reichen Stadtteils Chelsea und Kensington hatte entschieden, bei Renovierungsarbeiten eine billigere, aber nicht so sichere Verkleidung zu verwenden. Mehr als 180 Familien aus dem Tower warten immer noch darauf, dass ihnen die Kommune eine neue dauerhafte Bleibe zuweist. Die Polizei warnt, der Notting Hill Carnival könnte dieses Jahr Randalierer anziehen, die Ärger machen unter dem Vorwand, gegen diesen Skandal protestieren zu wollen.

Zumindest soll es diesmal, anders als in den Vorjahren, nicht regnen, wobei die vorhergesagten 24 Grad und Wolken auch nicht gerade karibische Gefühle aufkommen lassen. Das zuverlässig maue Wetter passt besser zu einem anderen Umzug, der kurioserweise stets am gleichen Montag wie der Notting Hill Carnival stattfindet: Katholiken pilgern vom Gericht Old Bailey in der City of London, der historischen Altstadt, die jetzt die Banken beherbergt, entlang der Einkaufshölle Oxford Street zum Hyde Park.

Das Old Bailey steht an der Stelle des berüchtigten Gefängnisses Newgate. Von dort wurden früher Verurteilte zur Richtstätte Tyburn gebracht und erhängt. Und dieser Henkersplatz befand sich da, wo heute die belebte Edgware Road an den Nordrand des Hyde Park stößt. Eine Plakette im Bürgersteig erinnert daran. Die Pilger gedenken der Katholiken, die hier im 16. und 17. Jahrhundert als Märtyrer für ihren Glauben starben. Ein schauriges Kontrastprogramm zum karibischen Karneval in dieser Stadt der manchmal schwer erträglichen Gegensätze.

© SZ vom 25.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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