Behinderten-Werkstätten:Werkbank für den Mittelstand

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Statt in Billiglohnländer zu gehen, lagern Unternehmen Arbeit an Betriebe für psychisch und körperlich Behinderte aus - und erhalten so auch Jobs in Deutschland.

Caspar Dohmen

Wuppertal - Eines Tages kann Katrin Engelweis (Name von der Redaktion geändert) einfach nicht mehr. Die Arbeitslast ist ihr zu groß. Die Akkord-Arbeiterin kündigt, wenig später überweist sie ein Arzt in eine Klinik für psychisch kranke Menschen.

Behinderte Mitarbeiter einer Großwäscherei in den Werkstätten der Arbeiterwohlfahlfahrt. (Foto: Foto: ddp)

Gut zwei Jahre später sieht die Welt von Katrin Engelweis wieder besser aus. Bei Pro Viel, einer Werkstatt für psychisch Kranke in Wuppertal, hat die Frau einen Job gefunden. Wie früher baut sie wieder Kinderfahrräder für den Hersteller Puky zusammen.

Engelweis profitiert von einem Trend, der bundesweit zu beobachten ist: Im Kampf gegen die kostengünstige Konkurrenz aus China hat ihr ehemaliger Arbeitgeber viele Tätigkeiten aus dem Wülfrather Stammwerk in Behinderten-Werkstätten auslagert.

Engelweis ist eine von etwa 400 Beschäftigten, die in sechs Werkstätten für psychisch oder körperlich behinderte Menschen in Wuppertal, Düsseldorf, Velbert, Ratingen und Dessau Teile von Kinderfahrrädern, Dreirädern oder Go-Carts fertigen und fast die komplette Endmontage für das Unternehmen erledigen.

So wie Puky machen es auch andere Firmen: Statt in Billiglohnländern produzieren zu lassen, beauftragen sie Behinderten-Werkstätten mit der Fertigung.

Deren Geschäfte laufen derzeit glänzend. Grob geschätzt hätten die Werkstätten zuletzt ein jährliches Auftragsvolumen von zwei Milliarden Euro für Unternehmen abgewickelt, sagt Stephan Hirsch, stellvertretender Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen.

Bundesweit 687 Einrichtungen

Das Volumen steige seit Jahren, parallel zum Anstieg der Beschäftigten in den Werkstätten. Mittlerweile gibt es bundesweit 687 solcher Einrichtungen mit 2094 Betriebsstätten und 240.300 Plätzen.

Allein 2005 kamen mehr als 10. 000 Plätze hinzu. Viele Werkstätten seien innovative Betriebe, sagt Hirsch, sie kooperierten nicht nur mit mittelständischen Unternehmen, sondern auch mit Weltkonzernen wie DaimlerChrysler.

Engelweis hatte schon viele Jahre bei der Gerresheimer Glashütte und dem Gummibandhersteller Goldzack gearbeitet, als sie mit 38 Jahren im Industriegebiet "An der Fliethe" bei Puky anfing. Dort montiert die Arbeiterin Fahrräder, hängt Rahmen zur Pulverbeschichtung an die automatischen Förderbänder oder verpackt die fertigen Fahrzeuge.

Der Job macht ihr lange Spaß, doch dann steigt der Arbeitsdruck. "Es ging immer schneller, immer produzieren, immer produzieren", erzählt die kleine Frau und gerät beim Reden außer Atem. "Ich ging nur noch mit Magenschmerzen zur Arbeit, hatte die Schnauze voll, dann wurde ich krank", sagt sie und sucht im Gesicht ihres Gesprächspartners nach Verständnis. Nach sieben Jahren kündigt Engelweis, verlässt mit Puky auch den ersten Arbeitsmarkt.

Die Frau ist kein Einzelfall. "Viele Menschen funktionieren nicht mehr in unserem Wirtschaftssystem", sagt Pro-Viel-Geschäftsführer Michael May. "Wenn das Band den Takt vorgibt, fallen sie heraus." Früher habe es viele Hilfstätigkeiten für weniger belastbare Menschen gegeben.

Keine Nischen mehr

Doch heute wird der Wagen des Chefs nicht mehr auf dem Firmenhof, sondern in der Waschanlage gewaschen. Früher fanden Menschen einfache Jobs als Boten oder Pförtner. "Die meisten dieser Nischen für schwer zu beschäftigende Menschen sind weggefallen", sagt der Sozialunternehmer.

Jeden kann es treffen. "Wir alle sind nur wenige Schritte von dem Schicksal eines behinderten Menschen entfernt. Denken Sie an einen Autounfall, schwere Verletzungen, dann die folgende Arbeitsunfähigkeit", sagt May. "Oder denken Sie an die Arbeitslosigkeit."

Der Kaufmann und Sozialpädagoge erzählt von einem Mitarbeiter, der früher bei Siemens den Tempomat zur automatischen Geschwindigkeitssteuerung mitentwickelt habe. "Hier bei uns konnte er vor lauter Angst nicht mehr Auto fahren", sagt May.

Vor allem wegen des drastischen Anstiegs psychischer Erkrankungen werden mehr Werkstattplätze gebraucht. Nach einer neuen Studie des AOK-Bundesverbandes hätten psychische Erkrankungen wie Depressionen innerhalb von zehn Jahren um 13 Prozent zugenommen, sagt Hirsch.

Arbeiten in einer Behindertenwerkstatt: Drastischer Anstieg von psychischen Erkrankungen. (Foto: Foto: ddp)

Wer bei Pro Viel arbeitet, dem hat seine Berufsgenossenschaft, Rentenversicherung oder die Bundesagentur für Arbeit die Arbeitsunfähigkeit für den ersten Arbeitsmarkt bescheinigt. Wer hier arbeitet, der könnte ausschließlich staatliche Unterstützungsleistungen beziehen, kann sich aber durch die Arbeit in der Werkstatt Geld dazuverdienen.

Und wer hier arbeitet, trägt möglicherweise mit dazu bei, dass die Arbeitsplätze der ehemaligen Kollegen in Deutschland erhalten bleiben.

Stolz führt Geschäftsführer und Gesellschafter Ralf Puslat den Gast durch die Fertigungshalle von Puky, in der Arbeiter mit Maschinen mehrere Meter lange Stahlrohre biegen, plätten, lochen, stanzen und schweißen, beschichten und am Ende Kinderfahrzeuge bauen.

Wo früher viele Hände anpackten, erledigen heute ein Dutzend halb- oder vollautomatische Roboter die Arbeit. "Der schafft drei Schweißnähte in 1,5 Sekunden", führt Puslat einen Roboter vor. Heute arbeiten noch 50 Menschen in der Fertigung; als Engelweis hier noch am Montageband stand, da waren es doppelt so viele.

"Viele Arbeiten haben wir in die Werkstätten für Behinderte verlagert", sagt Puslat. Darauf hatten sich die Gesellschafter des Familienbetriebs schnell verständigt, um im immer härteren Kostenwettbewerb mithalten zu können. Die Idee lag nahe. Schließlich arbeitete das Unternehmen schon länger mit verschiedenen Werkstätten zusammen.

Dabei dominierten lange Zeit einfache Handlangerarbeiten. Griffe auf Lenker stecken, Reifen auf Felgen ziehen, Nabenputzer zusammendrehen. Solche Tätigkeiten gibt es bis heute, doch sie sind nur noch ein Teil im Produktpuzzle einer Werkstatt.

So stehen in der lichten Halle für Metallarbeiten bei Pro Viel längst die gleichen Typen computergesteuerter Drehmaschinen wie bei den Gewerbebetrieben im Umland. Allerdings bedienen hier psychisch Kranke die Maschinen. Sie machen die Tätigkeiten, die sonst Facharbeiter machen.

"Die Fertigung durch Facharbeiter lohnt sich vielfach nicht mehr", sagt der Leiter der Metallwerkstatt Dirk Bauer. Für die Werkstätten seien Lohnkosten dagegen kein Thema. Sie könnten aus dem Vollen schöpfen. "Mit wie vielen Leuten wir das hier machen, ist völlig egal", sagt Bauer. Entscheidend sei allein die pünktliche Lieferung und Qualität.

In diesen Punkten müssten die Werkstätten die gleichen Normen erfüllen wie jeder x-beliebige Zulieferer. Der Hauptauftrag der Werkstätten ist bis heute allerdings die Rehabilitation und Integration von Menschen mit Behinderung.

Die Zusammenarbeit von Puky mit den Werkstätten entwickelte sich sprunghaft. "Das lag am Wettbewerbsdruck", sagt Geschäftsführer Puslat. In der Fahrradbranche kommt der vor allem von Billigproduzenten aus Fernost. Die deutschen Hersteller hätten sich deshalb fast alle zu Händlern verwandelt, die kaum noch über eigenes Produktionswissen verfügten, sagt Puslat.

"Das wollen wir bei Puky auf jeden Fall verhindern", sagt der Manager und betritt einen mit Glaswänden abgetrennten Raum in der Fabrikhalle. Dort steht ein Dreirad auf einem Prüfstand. Immer wieder, rund um die Uhr werden die potenziellen Bruchstellen an den Schweißnähten durch hydraulische Stempel belastet.

Hier prüft Entwickler Markus Oberle, ob die Kinderfahrzeuge von Puky ihrem Ruf als unverwüstliche Vehikel gerecht werden.

Oberles Arbeitsplatz wäre gefährdet, wenn sich die Firma für eine Fertigung in Osteuropa oder China entscheiden würde, wo sich das Management immer wieder umschaut. Bisher kamen sie von ihren Auslandsreisen immer wieder mit der Überzeugung zurück, dass der Mix aus Eigenfertigung im deutschen Werk und den Behinderten-Werkstätten zukunftsweisend ist.

Ein Viertel der Kosten gespart

Das Unternehmen spare gut ein Viertel der Kosten durch die Produktion in den Werkstätten. "Wir zahlen einen fairen und gerechten Lohn für den behinderten Menschen. Die Räumlichkeiten, das Management und die Betreuung werden als öffentliche Aufgabe finanziert. Darin besteht der entscheidende Kostenvorteil", sagt Puslat.

Der Gesetzgeber hat den Werkstätten einige Sonderbedingungen verschafft, damit diese im Wettbewerb mit der Erwerbswirtschaft bestehen können. So können Arbeitgeber durch die Auftragsvergabe an Werkstätten die Ausgleichsabgabe für die Nichtbeschäftigung von Behinderten teilweise kompensieren.

Als steuerlich begünstigte Zweckbetriebe zahlen Werkstätten den ermäßigten Umsatzsteuersatz von sieben Prozent, bei öffentlichen Aufträgen kommen sie selbst dann zum Zuge, wenn ihr Preis 15 Prozent über dem Angebot eines Konkurrenten liegt.

Was als Starthilfe für Behinderten-Werkstätten gedacht ist, hilft mittlerweile vielen Unternehmen bei der kostengünstigeren Produktion. So fertigt Pro Viel bereits für 60 mittelständische Unternehmen aus Umlandgemeinden wie Hagen, Wülfrath oder Sprockhövel.

Aus den Werkstätten kommen zum Beispiel Gardinenstangen für den Raumausstatter Porschen, Stopptasten für Busse von Hattich oder Hundekämme für Alcoso.

"Wir sind eine verlängerte Werkbank für die mittelständische Industrie unserer Region", sagt Geschäftsführer Michael May. Pro Viel sei gefragt, wenn die Betriebe mit ihrem Kostenlatein am Ende seien. "Der Chinese im Tal", brachte ein Wuppertaler Stadtmagazin die Erfolgsformel der Werkstatt auf den Punkt.

"Wir sind Arbeitgeber und keine Therapeuten"

Pro Viel richtet sich exakt nach den Vorgaben seiner Kunden. Geliefert wird auf Anfrage, die drei Hochlager sind voll mit Vorprodukten, die bei Bedarf weiterverarbeitet werden. Mit einer kleinen Flotte von vier Fahrzeugen werden Vorprodukte bei Unternehmen eingesammelt.

"Wir sind Arbeitgeber und keine Therapeuten", sagt May. Er schätzt seine Mannschaft. Aber er macht auch kein Geheimnis daraus, froh zu sein, nicht alle Leidensgeschichten über seine Mitarbeiter zu kennen. "Sonst würde ich mich kaum noch trauen, von ihnen etwas zu fordern", sagt er und fügt nachdenklich hinzu: "Denken Sie an die vielen Missbrauchsgeschichten als Auslöser für psychische Krankheiten."

Trotz schwerer Schicksalsschläge erfüllten die Mitarbeiter hier gewissenhaft ihr Arbeitspensum. Und das kommt bei den Kunden an.

Erst kürzlich baute das Unternehmen eine neue Halle, schaffte Platz für neue Aufträge. In den vergangenen fünf Jahren stockte May seine Belegschaft jährlich um zehn Prozent auf. Heute sind es gut 500 Beschäftigte.

Reicht die Mannschaft für einen Auftrag nicht aus, dann kann May auf das Netzwerk von drei weiteren Werkstätten zurückgreifen. Gemeinsam kommen die Betriebe auf 2500 Beschäftigte. "Eine solche Betriebsgröße schafft Vertrauen, da fragt auch schon einmal Henkel an", sagt May.

"Wir sind keine Jobkiller"

Ein schlechtes Gewissen angesichts des Arbeitsplatzabbaus bei vielen Unternehmen in der Region plagt May nicht. "Wir sind keine Jobkiller, sondern regionale Joberhalter. Weil wir die Teilfertigung machen, können die Betriebe überleben", sagt er.

Seine neueste Idee: Pro Viel könne seine Beschäftigten in die Unternehmen schicken. "Dann könnten wir die Arbeiten vor Ort erledigen", sagt May. Katrin Engelweis wird aber wohl kaum an ihre frühere Wirkungsstätte zurückkehren können. Sie fühlt sich an ihrem jetzigen Arbeitsplatz wohl: "Hier ist das Arbeiten super, hier gibt es keinen Druck. Seit ich hier bin, habe ich keine Magenschmerzen mehr, da nehme ich höchstens zu."

© SZ vom 10.9.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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