Augsteins Welt:Tempel der Moderne

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An dieser Stelle schreibt künftig jeden zweiten Freitag Nikolaus Piper. (Foto: Bernd Schifferdecker)

Die Börse und das Finanzwesen haben zur Entwicklung der Zivilisation viel beigetragen. Mittlerweile leidet die Welt aber unter dem, was entstand, seit die Finanzmärkte aus dem Ruder gerieten - nicht zuletzt mit Hilfe schlechter Mathematiker.

Von Franziska Augstein

Wer erinnert sich noch an "Slime"? Das war ein eklig-giftgrün-wabbeliges Plastikgemisch, der letzte Schrei auf dem Spielzeugmarkt, das in den 80er Jahren auf viele Fußböden gegossen wurde, sich dort selbständig machte und immer wieder neue Formen annahm. Die amerikanische Immobilienblase, die 2007 platzte, war nicht mit Luft gefüllt, sondern mit dem finanztechnischen Äquivalent von Slime. Die Krise zog dann den großen Rest der Welt in Mitleidenschaft - und dabei nahm sie viele Formen an. Letzteres machte es den unbelehrbaren Fürsprechern unregulierter Märkte möglich, nicht von einer Finanzkrise oder einer Bankenkrise zu reden, sondern die Schuld auf Staaten abzuschieben. Die Regierungen des europäischen Mittelmeerraums können ein Lied davon singen.

Zwei oder drei Experten hatten die Krise von 2007 vorhergesehen. Aber weil es im Finanzsektor mehr als genug Wahrsager gibt, hatte niemand auf sie gehört. Erst im Nachhinein wurde die Sache klar: Auf die Entgrenzung der Märkte erpichte Leute hatten das Sagen, und sie glaubten Finanzmathematikern, die falsche Formeln entwarfen, denen zufolge der außer Rand und Band geratene amerikanische Kreditmarkt für Immobilien sich von allein im Gleichgewicht halten würde. Die Formeln waren sehr kompliziert, kein Praktiker hätte sie nachrechnen können, aber sie kamen allen gelegen, die in spekulativen Geschäften schwelgten. Nachgerechnet wurde erst später, als das Desaster offenbar geworden war und sich herausstellte, wie schäbig viele Banken sich benommen hatten, die an mittellose Familien Kredite vergaben, um dafür ihre Provisionen einzustreichen. Die Welt war fassungslos: Falsche mathematische Formeln hatten dazu beigetragen, eine globale Wirtschaftskrise zu entfachen! Man rettete sich in die Vorstellung, diese Vorgänge seien absolut neu gewesen, noch nie dagewesen. Und was neu ist, kommt überraschend, oder?

Der amerikanische Wirtschaftshistoriker William Goetzmann weiß: Die Ergebnisse mathematischer Berechnungen können für professionelle Spekulanten sein, was für die Normalbürger das Vitamin C ist, von dem sie abergläubisch annehmen, es beuge Erkältungen vor.

Goetzmann hat ein Faible für den Kapitalismus und das ihm zugrunde liegende Finanzwesen. Er hält beides für große Errungenschaften der Menschheitsgeschichte. Sein Buch "How Finance Made Civilization Possible" (Wie das Finanzwesen Zivilisation möglich machte) ist an dieser Stelle schon einmal erwähnt worden. Es lohnt abermalige Betrachtung. Im späten Mittelalter und in der Renaissance war Europa in Finanzdingen ungemein innovativ. Der Biogeograf Jared Diamond hat gezeigt, dass die Kleinteiligkeit des Kontinents mit seinen vielen Flüssen dem Fortschritt zuträglich war. Andere Historiker verlegen sich auf die politischen Aspekte: Wo lauter kleine Staaten immerzu miteinander hadern, werden technische Innovationen gefördert. Allerdings: Ohne das nötige Kapital kommt keine Innovation zur Reife. Das ist der Punkt, wo Goetzmann einhakt.

Und so war es aus seiner Sicht durchaus notgedrungen, dass das europäische Finanzwesen im späten Mittelalter und in der Renaissance, anders als in dem Riesenreich China, einen großen Sprung nach vorn machte: Die "Korporation", die es im alten Rom schon gegeben hatte, wurde wiederentdeckt, was bedeutete, dass etliche Financiers sich das Risiko einer Investition teilten. Vom Souverän unabhängige Banken kamen ins Leben, die den Einzelnen vor dem unmittelbaren Zugriff des Staates auf das Vermögen schützten. Versicherungen auf das Eigentum, Investitionen in den Fernhandel und das eigene Leben wurden abgeschlossen. Diese Vorsorgemaßnahmen, so Goetzmanns Argument, verführten die Zeitgenossen dazu, immer größere Risiken einzugehen, meinten sie doch, nicht allzu viel verlieren zu können. So bildeten sich die ersten Blasen auf den frühmodernen Märkten Europas.

Im 19. Jahrhundert waren kluge Leute der Auffassung: An der Börse könne man nicht gewinnen

Aus Schuldverschreibungen entwickelten sich das Aktienwesen und die Börsen. Letztere zogen Mathematiker in ihren Bann: Waren die Kursentwicklungen nicht vielleicht mathematisch kalkulier- und also vorhersehbar? Sollten sie vorhersehbar sein, konnte man dieses Wissen bei interessierten Bankiers zu Geld machen.

Inwieweit die Mathematiker der Gegenwart dafür bezahlt wurden, in den USA vor 2007 zu versichern, das Finanzsystem sei aus mathematischer Sicht intakt: Es ist unklar. Sicher ist, dass die Wahrscheinlichkeitsrechnung, die Daniel Bernoulli im 18. Jahrhundert entwickelte, einigen seiner mathematischen Nachfolger im 19. Jahrhundert gutes Geld einbrachte: Jules Regnault (1834 bis 1894) lebte davon, Börsengeschäfte zu makeln: Die Börse nannte er "den Tempel der Moderne". Dazu im Gegensatz stand seine Theorie, derzufolge man an der Börse nicht gewinnen könne, weil der "faire Preis" sich über das Marktgeschehen einpendele.

Sehr erfolgreich löste Henri Lefèvre (1827 bis 1885) die Frage seines privaten Einkommens. Er arbeitete für das Bankhaus Rothschild. Da befasste er sich mit Optionen, also dem Versprechen, Waren zu einem "heute" festgesetzten Preis zu kaufen, so dass spätere Preiserhöhungen nicht greifen. Alle Optionskäufe setzte er in Diagramme. Damit gab er den Aktienhändlern an die Hand, ihre Risiken und Profite zu errechnen und, wenn nötig, ihre Investitionen den Marktverhältnissen anzupassen. Goetzmann zufolge, hat Lefèvre also "hedging" miterfunden. In welch großem Maßstab das heute praktiziert wird, hat dieser sich allerdings nicht vorgestellt.

Goetzmann hat Respekt vor alten Wirtschaftsmathematikern. Jene unter den heutigen, die nicht richtig rechnen können, erwähnt er in seinem Buch gar nicht erst.

© SZ vom 12.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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