Augsteins Welt:Tadel des Kapitalismus

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Die Soziologie, Jahrzehnte ins Hintertreffen geraten, ist zurück. Das zeigen das große Interesse am Thema Ungleichheit und die volle Bühne für Stephan Lessenich in München. Er stellt das herrschende System und den Wachstumsglauben infrage.

Von Franziska Augstein

Die Soziologie ist wieder da. In den 70er-Jahren galt das Fach als der von Koryphäen in Rollkragenpullovern gesäumte Königsweg zur Welterkenntnis. Dann aber waren selbst begeisterte Weltverbesserer nicht mehr interessiert. In den 80er-Jahren war es, wie wenn die schwarz-gelbe Koalition unter Kanzler Kohl die Devise ausgegeben hätte: Wirtschaftswissenschaftler, Historiker, übernehmen Sie! In den 90er-Jahren bekamen die Geschichtsforscher im Schein ihrer eigenen Bedeutsamkeit fast einen Sonnenbrand; und die Ökonomen hatten sowieso immer recht. Letzteres änderte sich erst mit der Weltfinanzkrise 2008, die unter anderem erwies, dass Wirtschaftswissenschaftler nicht unbedingt gute Mathematiker sind.

Auf dem Gebiet der Weltanalyse (Wo stehen wir? Wohin treibt es uns?) ergab sich eine Lücke. Zur gleichen Zeit hatten Soziologen es als unbefriedigend wahrgenommen, sich mit möglichst komplizierten Theorien zu befassen, die darauf hinauslaufen, dass alles sich irgendwie um "Macht" dreht oder um "Kultur". Ohne Blick auf die Wirtschaft lassen Gemeinwesen sich nicht erklären - und globale Zusammenhänge schon gar nicht.

Das Publikum sieht das genauso: Einblicke in die Wirklichkeit, sei es das eigene Portemonnaie oder eine unsichere Endlagerstätte für Atommüll, sind allemal bewegender als theoretische Höhenflüge. Deshalb hat der soziologisch bewanderte Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty mit seinem Buch über Ungleichheit Erfolg gehabt. Daher auch das große Renommee des Kölner Soziologen Wolfgang Streeck, der sich eingehend mit wirtschaftlichen Fragen befasst.

Das zeigte sich auch neulich in den Münchner Kammerspielen: Der Münchner Soziologe Stephan Lessenich stellt auf einer prall gefüllten Nebenbühne sein neues Buch vor: "Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis" (Hanser Berlin). Mit dem Begriff "Externalisierung" wird in der Soziologie ein paradoxes Phänomen beschrieben: Die reichen Industrieländer verarbeiten Agrarprodukte aus aller Welt; im Rhein und in der Elbe kann man schwimmen, große Flüsse armer Länder sind indes verseucht. Weiter: Viele arme Länder sind dazu verdammt, ihre Rohstoffe von internationalen Konzernen ausbeuten zu lassen; mit diesen Rohstoffen werden zum Beispiel Elektrogeräte gebaut, die schnell zu Schrott werden, und dieser Schrott landet dann als Exportmüll bei den armen Ländern, wo Kinder sich die Gesundheit verderben, weil sie an den Drähten schnuppern müssen, um herauszufinden, was noch verwertbar ist. Weiter . .

. Nein, hier sei nur zusammengefasst, was Lessenich unter "Externalisierung" versteht: "Ausbeutung fremder Ressourcen, Abwälzung von Kosten auf Außenstehende, Aneignung der Gewinne im Innern, Beförderung des eigenen Aufstiegs bei Hinderung (bis hin zur Verhinderung) des Fortschreitens anderer."

Jeder Bewohner der hochindustrialisierten Länder hat daran seinen Anteil. Lessenich sagt: Mülltrennung bringt da nichts, das Problem ist systemisch. Das System ist der Kapitalismus, der auf immer mehr Wachstum baut. Es gibt Wachstum, aber nicht für alle. Bisher haben die Bewohner armer Länder für unser Wachstum die Zeche bezahlt. Im Maße, wie sie dem Hungern preisgegeben sind, werden sie den Weg nach Norden suchen, nach Europa, in die USA, Kanada. Lessenichs Buch stellt den Kapitalismus als System in Frage, überzeugend. Sein Buch belegt: Kein Wunder ist es, dass die Deutsche Gesellschaft für Soziologie in den vergangenen Jahren rund 1000 neue Mitglieder gewonnen hat.

An dieser Stelle schreiben jeden Freitag Franziska Augstein und Nikolaus Piper im Wechsel.

© SZ vom 21.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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