Augsteins Welt:Pro Protektionismus

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An dieser Stelle schreibt künftig jeden zweiten Freitag Nikolaus Piper. (Foto: Bernd Schifferdecker)

Der Freihandel wird seit dem 19. Jahrhundertquasi als Stein der Weisen gehandelt.Staatlicher Protektionismus hat einen schlechten Ruf. Das ist ein grandioser Irrtum.

Von Franziska Augstein

Die Zeit birst schier vor "Chancen", angeblich. In den Medien wird die Welt manchmal betrachtet, wie wenn sie ein Spielbrett wäre, auf dem die Corona-Krise plötzlich Möglichkeiten eröffnet hätte. Der Umstand, dass Eltern ihre Kinder zu Haus unterrichten mussten, die Abwürgung von Handel und Industrie, die Kurzarbeit, die Verlagerung von Treffen auf Video-Konferenzen: all das und vieles mehr biete für die Zukunft viele "Chancen". Das Wort "Chance" ist mittlerweile abgenutzt wie eine alte, lange Hartwurst: Schon so viele Scheiben wurden abgeschnitten, aber die Wurst will kein Ende nehmen. Hat man sie in der Küche aufgehängt, tropft ihr Fett in der Sommerwärme unten heraus.

Was unten ankommt, ist eine schon bekannte Art von Fett. Eine Pfütze davon heißt "Protektionismus". Aufgeregt sind Wirtschaftsfachleute seit Längerem, weil die Vereinigten Staaten unter Donald Trump eine bekloppte internationale Wirtschaftspolitik betreiben. Sanktionen hier, neue Zölle da. Dabei gilt der Freihandel doch als das Gebotene im internationalen Austausch. So die obwaltende Meinung.

Die Idee vom Freihandel kam in Britannien Anfang des 19. Jahrhunderts auf den Plan, als hohe Zölle auf den Import von Getreide erhoben wurden, damit die englischen Großgrundbesitzer gut verdienten. Brot war teuer; arme Leute darbten. Wer damals für Freihandel plädierte, sprach für die Gesellschaft. Seit der internationalen Vernetzung von Wirtschaft und Handel kommt der Freihandel freilich vor allem den Besitzenden zupass, also wohlhabenden Staaten.

Völlig unverständlich ist es, dass Wirtschaftskenner den Ausbau des Freihandels befürworten, dabei aber geflissentlich übersehen, dass die Europäische Union, zum Beispiel, diesen nach Möglichkeit unterbindet. Rot vor Scham von morgens bis abends sollten die Zuständigen der Europäischen Kommission und EU-Parlamentarier sein, die Subventionen für den europäischen Agrarmarkt bewilligen - dies vor allem Großagrarunternehmen in Frankreich und Polen zuliebe, die von ihren Regierungen saftig vertreten werden. Der Effekt ist, dass wenig mehr als afrikanische "Südfrüchte" sowie die wahrhaft köstlichen Bohnen aus Kenia in Europas Supermärkten landen; viele andere Erzeugnisse von Afrikas Erde schaffen es nicht vorbei an der EU-subventionierten Konkurrenz. Dieselben EU-Leute, die für die Agrarsubventionen stimmen, jammern mit, wenn beklagt wird, wie bescheiden afrikanische Länder ökonomisch dran sind.

Protektionismus gilt als Schandwort. Wer das betreibt, gilt als zurückgeblieben und ohne Sinn für den globalisierten Handel. In der Theorie ist Freihandel vernünftig. In der Praxis ist es anders gelaufen: Kein Land der Welt ist bei Beginn seiner Industrialisierung ohne Protektionismus ausgekommen. Wirtschaftsliberale berufen sich auf die Theorien von David Ricardo (1772 bis 1823). Der hatte seinerzeit die Idee, jedes Land solle das produzieren, worauf es sich am besten versteht, und am Ende wären alle Länder glücklich. Demnach würde heute Portugal vor allem Wein erzeugen, Südkorea wäre auf Reisanbau angewiesen, und die Produktion kostspieliger Güter wäre den begnadeten Händen in der Alten Welt überlassen. Während der Krise der asiatischen "Tigerstaaten" in den späten 1990er-Jahren gab es ein paar Länder, die den Auflagen des Internationalen Währungsfonds nicht folgten: Sie sparten ihre Wirtschaft nicht kaputt, sie erhoben Kapitalverkehrskontrollen, damit nicht Geld abfließe, das daheim für die Wirtschaft nötig war.

Freihandel bringt für viele Länder nicht Wohlstand, sondern Armut

Südkorea wollte aber nicht bloß reichen Ländern in die Hände spielen. Es wollte eine eigene Industrie aufbauen. Protektionismus ist bei aufstrebenden Ländern nicht bloß normal, sondern nötig. Das hat bereits Friedrich List (1789 bis 1846) gesehen. Ihm flechten die Wirtschaftsliberalen keine Kränze. 2014 hat der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz zusammen mit Bruce Greenwald mit Ziffern und Tabellen ausbuchstabiert, warum Freihandel für viele Länder schädlich ist ("Die Innovative Gesellschaft", Econ, 2015). Den Begriff für noch gleichsam im Kinderstatus sich befindende Wirtschaftsverhältnisse - infant industries - hat schon John Maynard Keynes (1883 bis 1946) gekannt. Der schrieb mit Hinblick auf protektionistische Zölle: "'Erziehungszoll' nennt man das heute."

Die Welthandelsorganisation (WTO) hatte bei ihrer Gründung ein gutes Konzept: Es entspricht dem, was ihr Name besagt. Böse Zungen sagen, die WTO sei heute kaum mehr als eine Lobbygruppe der reichen westlichen Länder. Die Vereinigten Staaten spielten früher eine führende Rolle in der WTO. Aber Präsident Trump will bei der WTO nicht mehr mitspielen.

Als China 2001 beitreten durfte, war man stolz in Peking. Man erhoffte sich bessere wirtschaftliche Kontakte in alle Welt. Auswärtige Investoren können dort produzieren. Nicht zumutbar ist es, in China nur dann produzieren zu dürfen, wenn Investoren die Blaupausen ihrer Maschinen abgeben. China ist über den Status einer "infant industry" längst hinaus. Im Hinblick auf den Wechselkurs seiner Währung hat das Land das auch geklärt: Der Renminbi wird nicht mehr künstlich kleingehalten, der Wechselkurs entspricht seit ungefähr fünf Jahren dem, was die Währung wert ist. Es ist chinesische Tradition seit anno dunnemals, ohne das Ausland zurechtzukommen. Man sollte der Führung in Peking noch etwas Zeit lassen, sich ins internationale Gefüge einzufinden.

In Europa angesichts von Covid-19 ist die Stimmung derzeit trübe. Frankreichs Präsident Macron sagte, Europa solle autark werden. Nun ja. Vernünftig ist es, wenn die EU ihre interne Wettbewerbsregulierung global ausdehnt. Auch das ist Protektionismus.

© SZ vom 19.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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