Augsteins Welt:Preis der Ungleichheit

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Pikettys Buch über die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts hat Furore gemacht und wird aufs Schärfste kritisiert. Seine Daten verbessert er gern.

Von Franziska Augstein

Der Wirtschaftsmathematiker Branko Milanović hat eine Gleichung vorgestellt:

Alles klar? Nein? Für alle, die diese Gleichung in ihrer optischen Schönheit an Hieroglyphen erinnert, die sie auch nicht lesen können, hat Milanović eine Erklärung parat. Diese Gleichung spiegelt den Gini-Koeffizienten der "klassischen" Ökonomie: Armut und Wohlhabenheit einzelner Länder werden zueinander in Beziehung gesetzt, wobei es vor allem auf den Aspekt des vorhandenen Kapitals ankommt, nicht auf den Erwerb aus Lohnarbeit. Milanović meint, die Lohnarbeit dürfe nicht vernachlässigt werden. Dabei geht es ihm auch, aber nicht nur, um die vielen Manager, die Millionen verdienen. Das Ergebnis seiner Studien, die er mit noch viel längeren mathematischen Gleichungen untermauert: Thomas Piketty habe recht mit der Ansicht, es bedürfe staatlicher Eingriffe, um der Verbreitung von wirtschaftlicher Ungleichheit Einhalt zu gebieten.

Pikettys Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" macht seit 2013 Furore. Ohne die Finanzkrise, die 2007/2008 über die Welt hereinbrach, hätten wohl weniger als zwei Millionen Käufer weltweit sich dafür interessiert. (Schandmäuler vermuten übrigens: Auf dem Index der nicht-gelesenen Bestseller stehe sein Buch neben "Mein Kampf" und "Eine kurze Geschichte der Zeit" des Astrophysikers Stephen Hawking ganz oben.) Seither ist Piketty viel kritisiert worden. Seine Zahlen seien falsch, und wenn nicht die Zahlen, dann seine Analysen, und wenn nicht die Analysen, dann seine Schlussfolgerung. Letztere ist, was er selbst eingestanden hat, utopisch: Weltweit müsse Reichtum mehr besteuert werden als bisher.

Unlängst hat Piketty aufgrund der Arbeit von Dutzenden Forschern eine neue Studie vorgelegt. Die FAZ fand: Auch diese Daten seien ungenau, und selbst Pikettys "Fans" würden ihm keine "ordentliche inhaltliche Verteidigung" angedeihen lassen. Ach ja? Die Wirtschaftswissenschaftler Heather Boushey, J. Bradford DeLong und Marshall Steinbaum haben ökonomische Koryphäen um Kommentare zu und Kritik an Pikettys Buch gebeten, das unter dem Titel "After Piketty" 2017 bei Harvard University Press erschien.

Pikettys Argumentation, brutal zusammengefasst, geht so: Auf die Dauer übersteige die Rendite auf Kapital das Wirtschaftswachstum. Folglich konzentriere Vermögen sich zunehmend in den Händen der Wohlhabenden. Die Reichen und also Einflussreichen sorgten dafür, dass ihre Staaten eine ihrem Portfolio genehme Wirtschaftspolitik betreiben. Dieses Argument ist intuitiv plausibel; nur gibt es für Lobbyarbeit sowie große Spenden an Parteien und deren Auswirkungen noch keine mathematische Formel, weshalb Ökonomen sich wohl bis auf Weiteres abarbeiten werden an der Frage, wie man den Einfluss von privatem Reichtum auf die Politik bemessen kann. Das ist einer der Gründe, warum Piketty sagt, er habe sein Buch mit heißem soziologischem Interesse verfasst.

An dieser Stelle schreiben WZB-Präsidentin Jutta Allmendinger, Franziska Augstein und Nikolaus Piper jeden Freitag im Wechsel. (Foto: N/A)

Pikettys Berechnungen gehen bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück. Bei der von ihm konstatierten Entwicklung gab es - wenig überraschend - zur Zeit der zwei Weltkriege eine Delle. Der Krieg ist ein Gleichmacher, indem er auch die Vermögen der Reichen nivelliert. Wichtiger ist Piketty aber der politisch-soziale Effekt. Der war in der Bundesrepublik gleich nach dem Zweiten Weltkrieg eklatant: Zu Beginn ihres Bestehens waren die CDU und die CSU quasi-sozialistische Parteien. In Pikettys Heimatland Frankreich lebte hinterm Mond, wer sich nicht zum Kommunismus bekannte. Seither, so Piketty, habe sich das Verhältnis von Vermögensgewinnen zum Wirtschaftswachstum aber wieder ungefähr auf das Niveau des frühen 20. Jahrhunderts eingependelt.

Stimmt es, was er geschrieben hat? Was Europa angeht, hat er eingeräumt, dass die Ungleichheit dort weniger eklatant steige als in den USA und in Entwicklungsländern. Dass sie größer ist als vor fünfzig Jahren, ist indes unumstritten. In China und Indien geht es den Armen sehr viel besser als früher, das wiegt in der Statistik die ungeheuerlichen Einkommenszuwächse der obersten Schicht auf. Weil es für viele Länder nicht genug Daten gibt, ist Einkommensungleichheit im Übrigen sehr schwer zu bemessen.

Selbst ein Mann von der Rating-Agentur Moody's hält Ungleichheit für ein Problem

Markroökonomisch gesehen, stellt sich die Frage, ob wachsende Ungleichheit der Wirtschaft schadet. Nicht bloß der notorische Kapitalismuskritiker und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, sondern auch konservativere Gemüter stimmen zu: "Es gibt Anzeichen", schreibt Mark Zandi von der Ratingagentur Moody's, "dass große Ungleichheit, wie sie in manchen Teilen der Welt besteht, der Ökonomie schadet." Zandi meint: "Größere Ungleichheit würde wahrscheinlich die Finanzsysteme destabilisieren; arme, verschuldete Haushalte stellen beachtliche Risiken dar; das bringt die Wirtschaft in eine Berg- und Talfahrt; derweil wohlhabende Haushalte, die Geld ausgeben, sehr sensibel auf die Volatilitäten auf den Anlagemärkten reagieren." Die Argumentation des Wirtschaftswissenschaftlers Salvatore Morelli ist simpler: "Übergroße Ungleichheit im Hinblick auf Einkommen und Reichtum kann politische und soziale Instabilität hervorrufen."

Alle Welt nahm Pikettys Buch vornehmlich als historische Analyse von Wirtschaftsdaten wahr. Tatsächlich betrachtet er selbst sich eher als eine Art Soziologe, der allerdings weiß, dass man heutzutage über Gesellschaften nicht mehr reden kann, ohne ihre Einkommensverhältnisse zu kennen. Wie sagte Walther Rathenau? Die Wirtschaft ist das Schicksal.

© SZ vom 19.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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