Augsteins Welt:Menschen und Gurken

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Die EU verabschiedet immer wieder dusselige Verordnungen. Woran liegt es? Viele überflüssige Regularien werden jenseits politischer Kontrolle in Fachausschüssen entworfen.

Von Franziska Augstein

Hurra, die Gurkenverordnung gilt immer noch. Sie ist in die Geschichte eingegangen als Beispiel für sinnlosen Regulierungswahn der EU-Kommission. Auf zehn Zentimer Länge darf eine Gurke nicht mehr als einen Zentimeter gekrümmt sein, wenn sie im Verkauf der Güteklasse I zugerechnet werden will.

Natürlich will jede seriöse Gurke Klasse I sein, so beansprucht sie in der Kiste weniger Platz, und ihre Züchter haben Rechtssicherheit im Hinblick auf die Frage der Qualität. Ob sie gut schmeckt, ist der Gurke und den Züchtern ziemlich egal. Deshalb hat die nordeuropäische Gurke seit Beginn des 20. Jahrhunderts dafür gestritten, dass sie gemessen werde. In jüngerer Zeit haben vor allem deutsche und österreichische Gurkenköpfe sich dafür ins Zeug gelegt. Die Bürger Europas sahen das freilich anders, weshalb die EU-Kommission um mehr als einen Zentimeter einknickte und die Gurkenverordnung 2009 wieder aufhob samt den Verordnungen für 25 andere Gemüse- und Obstsorten. Die Gurke setzte sich aber durch: Ihr Krümmungsgrad wurde flugs von der UN in Genf neu geregelt, und die EU war ganz einverstanden.

Mit dem Traktorsitz lief es so: Dessen bayerische Fürsprecher wollten ihn nun gar nicht normiert sehen. Und so hat die EU-Kommission die Traktorsitzverordnung erst eingeführt und dann wieder abgeschafft. Man sehe: Es ist nicht so, dass die Kommission sich über die Belange der Bürger hinwegsetzte. Im Gegenteil: Seitdem die EU Geld für das Errichten von Verkehrskreiseln gibt, will fast jede noch so kleine Gemeinde so einen Kreisel haben. Zwei Straßen kreuzen sich, der Verkehr ist durchaus übersichtlich, aber ein Kreisel muss her: Anders fände die Gemeinde keinen Platz für die grässlichen Artefakte in der Mitte, die vermutlich auch von der EU finanziert werden.

Im Frühjahr hat die EU-Kommission ein Weißbuch zur Zukunft der EU veröffentlicht. Darin sind fünf mögliche Szenarien vorgestellt, wie es weitergehen könnte. Sie lassen sich mit drei Stichworten zusammenfassen: Alles beim Alten lassen, ein bisschen weniger oder ein bisschen mehr Regulierung. Das Papier war als Diskussionsvorlage für Europas Regierungen gedacht. Aber weil es ausgesprochen waberig ist, wird kaum einer sich damit beschäftigt haben. Auffällig ist, dass die Autoindustrie in vier der fünf Erwägungen in der Auflistung der Ziele Vorrang hat vor weltpolitisch bedeutsamen Vorhaben, die den Klimawechsel, den Umgang mit armen Ländern und andere Themen betreffen. Die Verfasser des Weißbuchs waren offenbar der Meinung: Autofahren ist wichtiger. Die Rede ist von dem "connected car", also dem komplett digitalisierten Auto. Man fragt sich, wer den Verfassern die Idee eingegeben hat, dass Europas Bürger vor allem danach lechzen, mit einem vollcomputerisierten Auto die Grenzen zu überqueren. Doch nicht etwa die Autoindustrie?

Die Fachausschüsse sind mächtig, mitunter erscheinen sie mächtiger als die EU-Kommission

Mit ein wenig Ressentiment belastet, ist es heilsam, mit Petra Erler zu sprechen. Sie hat jahrelang das Büro des EU-Kommissars Günter Verheugen geleitet, der zuletzt für Industriepolitik zuständig war. Ob wirtschaftliche Lobbys die Kommission beeinflussen, sagt sie, sei nicht nachzuweisen. Ihrer Erfahrung nach werden dusselige Beschlüsse eher von Einzelnen oder von kleinen Gremien aufs Gleis gesetzt: "Der Verdacht, dass die Kommission in den Händen der Industrie ist, der ist meistens falsch. Die Kommission ist sehr viel mehr in den Händen von Umweltorganisationen. Die sind sehr laut, weil sie sich immerzu benachteiligt fühlen." Im Übrigen, so Erler, werde vieles "nicht politisch entschieden. Das sind die Dinge, die am meisten Ärger machen. Die werden in Fachausschüssen besprochen und dann vom EU-Parlament durchgewinkt. Da beugen sich dann noch drei oder vier Leute drüber. In Wahrheit sind die mächtigen Leute die, die in solchen Gremien sitzen. Das ist das undemokratische Element".

Erler geht noch weiter: In den Fachausschüssen könnten Einzelne ihre Präferenzen zum Tragen bringen. Und es sei schwierig, das politisch zu kontrollieren, weil die Politiker oftmals keine Ahnung hätten und das angesichts der vielen diversen Anforderungen gar nicht haben könnten. Seit dem Lissabon-Vertrag sind die Fachausschüsse noch stärker als zuvor. Da sitzen Beamte der Mitgliedstaaten beisammen unter Leitung von Kommissionsbeamten - von Seiten der Politik werden sie gar nicht oder schlecht kontrolliert. So kommen Absurditäten zustande wie etwa die, dass die Beredungen zum Thema "Arbeitsschutzkleidung" in den Wunsch nach Vereinheitlichung europäischer Topflappen mündete.

Die Fachausschüsse erarbeiten jede Menge sogenannter technischer Regelungen, die im EU-Parlament in aller Regel durchgewinkt werden. Wenn die EU-Parlamentarier eines wissen, dann dieses: Europa ist kompliziert, und sie können nicht jede neue Gesetzesvorlage durchschauen. Es ist nicht schön und moralisch ist es zweifelhaft, was der Satiriker Martin Sonneborn im EU-Parlament betreibt. Er wurde auf der Liste der Spaßpartei "Die Partei" in das EU-Parlament gewählt. Dort stimmt er abwechselnd, einerlei, was auf der Agenda steht, mal mit "Ja", mal mit "Nein". Damit will er stellvertretend demonstrieren, dass auch EU-Parlamentarier, die ihre Arbeit ernst nehmen, oftmals nicht wissen, wofür oder wogegen sie votieren.

Das Weißbuch der Kommission wurde publiziert samt der Ankündigung, dass Arbeitspapiere folgen würden. Mittlerweile liegen einige sogar vor; die öffentliche Debatte hält sich aber, gelinde gesagt, in Grenzen. Das ist einer der Gründe, warum einige Leute, wie etwa Pierre Moscovici, der EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung, darauf dringen, es möge das Amt eines EU-Finanzministers geschaffen werden. Dann gebe es mehr Transparenz und mehr Diskussion.

© SZ vom 23.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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