Augsteins Welt:Hühnersuppe für alle

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An dieser Stelle schreiben WZB-Präsidentin Jutta Allmendinger, Franziska Augstein und Nikolaus Piper jeden Freitag im Wechsel. (Foto: N/A)

Von den Deutschen sagen viele, die Inflation von 1923 habe sie dermaßen traumatisiert, dass sie bis heute auf Geldwertstabilität pochen. Das ist nicht plausibel.

Von Franziska Augstein

Sag mir, woher du kommst - und ich sage dir, wer du bist: Das galt früher. Die Idee vom Nationalcharakter, einst unentbehrlich für viele Geistesgrößen, Geostrategen und auch Massenmörder, war nach dem Zweiten Weltkrieg diskreditiert. In der Erklärung der Menschenrechte von 1948 wurde die Würde jedes Einzelnen, ungeachtet der Herkunft, für unantastbar erklärt. In Westdeutschland kamen Ostfriesenwitze und Schwabenwitze später zwar gut an. Aber alle Schwaben, die darüber lachten, wussten: Auch in Ostfriesland braucht man in Wirklichkeit nicht zwanzig Mann, um eine Glühbirne einzudrehen. Und die Ostfriesen wussten, dass Schwaben in einer Gletscherspalte sich über einen Rettungshelikopter freuen, anstatt nach oben zu rufen: "Mir gäbet nix!"

Gleichwohl scheint die Idee, dass Völker je eigene Charaktereigenschaften hätten, die Welt auf so bequeme Weise erklärbar zu machen, dass selbst die Wirtschaftswissenschaften davon bis heute nicht unbeleckt sind. Warum ließen "die Deutschen" ungern von der D-Mark, warum sind sie auf einen starken Euro erpicht und gegen Schuldenaufnahme, um die Konjunktur im Euro-Raum anzukurbeln? Die exzellenten Wirtschaftsexperten Markus Brunnermeier, Harold James und Jean-Pierre Landau geben in ihrem Buch "Euro. Der Kampf der Wirtschaftskulturen" (C. H. Beck, 2018) dieselbe Antwort, wie sie seit Jahrzehnten üblich ist: "Eine expansive deutsche Geldpolitik" sei bei den Deutschen unpopulär gewesen, "die noch immer unter dem historischen Trauma der Hyperinflation litten." Gemeint ist die Hyperinflation von 1923. Sie, so die Autoren, habe die Deutschen traumatisiert.

Von einem Trauma ist an sich dann die Rede, wenn ein Individuum über ein schreckliches Erlebnis nicht hinwegkommt. Hier aber wird geredet von der Traumatisierung einer Kollektivseele, in der also das Volk wie ein Individuum leidet. Selbst wenn wir ausblenden, dass Währungsschlendrian auch in anderen nordeuropäischen Ländern verpönt ist, stellt sich immer noch eine Frage: Wie soll denn das durch die Inflation bewirkte "Trauma" das NS-Regime, den Zweiten Weltkrieg, die flächendeckende Zerstörung Deutschlands, Millionen tote Deutsche überlebt haben? Passierte nach der Kapitulation 1945 nichts Nennenswertes mehr? Leben die Deutschen seit Jahrzehnten in einer Zeitblase, welche die "kollektive Seele" der "Nation", sowie vom Euro die Rede ist, in die 20er-Jahre zurückversetzt?

Soziologen benötigen für ihre Untersuchungen halbwegs homogene Gruppen, die ihnen erlauben, von vielen Einzelgesprächen auf das Umfeld zu schließen. Daher müssen Verallgemeinerungen, sofern man sie nicht "Trauma" nennt, erlaubt sein. Hier versuchen wir uns an einer Verallgemeinerung: In der Tat legen "die Deutschen" Wert auf eine stabile Währung. Das hat aber nichts mit der Inflation von 1923 zu tun und auch nichts mit der Deflation vom Beginn der 30er-Jahre.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die NS-Politik, die viele Deutsche zuvor goutiert oder widerspruchslos mitgemacht hatten, das Land zerstört. Zur politischen Betätigung lud das nur jene ein, die heimlich oder offen gegen das NS-Regime gewesen waren. Alle übrigen konzentrierten sich aufs Geldverdienen.

Wer in den drei westlichen Besatzungszonen Ersparnisse hatte, verlor sie bei der Währungsreform 1948. (Die Kollektivierungen in der Sowjetischen Besatzungszone schufen andere Gefühlsmuster.) Der Krieg und die Währungsreform haben die Mentalität der heutigen "Deutschen" sicherlich mehr geprägt als die Inflation von 1923.

Genial war Merkels Bild von der schwäbischen Hausfrau. Denn es rechtfertigt verschiedenste Dinge

Geldverdienen; das verdiente Geld sich nicht wegnehmen lassen: Darum ging es nach dem Krieg in Westdeutschland. Die meisten Westdeutschen waren gegen Politik und wollten einfach nur ihr verdientes Geld behalten. Sie wollten Stabilität. In jener Zeit trafen die Ambitionen der Bevölkerung und der Adenauer-Regierung exzellent zusammen: Die Leute wünschten Ruhe; das Wirtschaftswachstum half innenpolitisch, und Adenauer tat außenpolitisch seinen Teil dazu, indem er die Bundesrepublik in die Nato hineinführte und für Verständigung mit Frankreich sorgte. Die deutsche Bundesbank samt ihrer Politik wurde - zu Recht - in allen Medien als Garant der Währungsstabilität gelobt. Das war der Tellerrand, über den "die Deutschen", viele Politiker eingeschlossen, bis heute nicht hinaussehen.

Die halb ewige Kanzlerin Angela Merkel hat sich diesem westdeutschen Denken anstandslos angepasst. 2008 waren sie und der damalige Finanzminister Peer Steinbrück genötigt, zu deklarieren: "Die Spareinlagen sind sicher."

Da nun ersann Merkel die Idee von der "schwäbischen Hausfrau". Mit dieser Märchenperson kam die Kanzlerin ihren Zuhörern, als die Finanzkrise am Dampfen war. Da erzählte sie zum Beispiel in München Folgendes: Die schwäbische Hausfrau, wenn ihre Familie krank ist, wenn alle im Bett liegen, dann wird sie doch, damit es allen besser geht, eine ordentliche Brühe aufsetzen. Dafür wird sie dann auch ein gutes Hühnchen kaufen, selbst wenn sie dafür mehr Haushaltsgeld ausgeben muss. Damit rechtfertigte Merkel die mit deutschem Steuergeld veranstaltete Rettung diverser Banken.

Merkels Bild von der schwäbischen Hausfrau war peinlich banal. Sei es. Politiker dürfen ihr Publikum unter Niveau ansprechen. Genial war der Einfall trotzdem. Denn der Bezug ist doppeldeutig. Eigentlich hält die sprichwörtliche schwäbische Hausfrau das Geld zusammen und macht keine Verabredungen mit einem Franzosen namens Macron, der die EU-Länder zu mehr finanzieller Solidarität bewegen will. Bevor sie da mitmacht, kocht Merkel lieber Hühnersuppe.

© SZ vom 04.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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