Augsteins Welt:Englische Kirschen

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An dieser Stelle schreibt künftig jeden zweiten Freitag Nikolaus Piper. (Foto: Bernd Schifferdecker)

Der Abschied Großbritanniens von der EU wird das Land ärmer machen. Der Brexit ist eine schlechte Idee.

Von Franziska Augstein

Am 29. März will Großbritannien offiziell seinen Austritt aus der EU annoncieren. Die Premierministerin Theresa May gilt als eine Frau, die sich von ihren Parteifreunden zum sogenannten "harten Brexit" hat treiben lassen. Das bedeutet: Falls die EU nicht kuscht, baut May darauf - zusammen mit den Leuten, die ihr den Rücken stärken oder vielmehr: die ihr auf den Fersen sind -, dass alles neu verhandelt wird, dass man keinen Binnenmarkt braucht, nicht unbedingt eine Zollunion samt den dazugehörigen Obliegenheiten und dass man stattdessen doch auch wunderbar, mit Kanada zum Beispiel, bilaterale Freihandelsabkommen vereinbaren könnte.

Diese Idee ist bizarr. Einige praktisch denkende Leute haben darauf hingewiesen, dass es bei Handelsbeziehungen auch ein wenig darauf ankommt, ob man von 400 Kilometern oder von 10 000 Kilometern Transportweg redet. Solche vernünftigen Erwägungen sind Theresa May nicht unbekannt. Sie sagt deshalb, mit der EU auch künftig gute Beziehungen haben zu wollen. Das ist erfreulich, besagt aber nichts. Theresa May und ihre Antreiber wollen das Beste von der EU, und was ihnen nicht passt, wollen sie nicht. Angela Merkel nennt das "Rosinen herauspicken", die Franzosen nennen es Europa "à la carte", und die Briten nennen es "cherry picking". Weil die erfahrene Politikerin Theresa May ihre englischen Kirschen von guten Argumenten zu unterscheiden vermag, kann man ihre Haltung auch mit einem anspruchsvollen Fremdwort beschreiben: Sie ist paradox. Paradoxa wurden von den Stoikern berühmt gemacht.

Bei einem Paradoxon handelt es sich um eine Feststellung, die dem Normalverständnis von dem, was richtig und vernünftig ist, zwar zuwiderläuft - aber dennoch birgt sie eine tiefere Wahrheit. Interessanterweise haben alte Konversationslexika das Wesen eines Paradoxons gern mit Beispielen aus der Welt des Geldes erklärt.

"Pierer's Universal-Lexikon", das der herzoglich-sächsische Major a. D. Heinrich August Pierer in den 1840er-Jahren publizierte, nennt als Beispiel den Satz: "Er hatte das Unglück, reich und vornehm zu sein." Die "Penny Cyclopedia", die zur gleichen Zeit von der "Society for the Diffusion of useful knowledge" (Gesellschaft für die Verbreitung nützlichen Wissens) in England herausgegeben wurde, zitiert den stoischen Satz: "Nur der weise Mann ist reich."

Donald Trump ist reich, aber er ist nicht weise, vornehm ist er schon gar nicht; und das alles hält er nicht für ein Unglück. Trotzdem wird seine Rede paradox genannt. Der International New York Times fiel es auf: Am 28. Februar hielt Trump eine Ansprache, die allgemein als gelungen eingestuft wurde. Zur Abwechslung hatte er genau das vom Teleprompter abgelesen, was seine Redenschreiber ihm aufgeschrieben hatten. Da verkündete er, Amerikas Politiker müssten alles Parteigezänk hinter sich lassen. Kurz zuvor hatte er freilich Nancy Pelosi, die angesehene Vorsitzende der demokratischen Fraktion im amerikanischen Repräsentantenhaus, als "inkompetent" abqualifiziert. Die International New York Times fand das "paradox" - die Zeitung war zu vornehm, Trumps Einlassung verlogen oder heuchlerisch zu nennen.

Das Corbyn-Paradoxon besagt: Man kann völlig unbedeutend sein und doch sehr einflussreich

Ein echtes Paradoxon hingegen fand Philip Stephens, ein Kolumnist der Financial Times. Auf seine Beobachtung war er zu Recht stolz, weshalb er ihr einen Namen verpasste: Er nannte sie "das Corbyn-Paradoxon". Damit meint er folgendes: Jeremy Corbyn ist altbacken-ideologisch und unfähig, sodass die Labour Party unter ihm als Oppositionspartei nicht wahrnehmbar ist.

Und doch ist Corbyn ein über alle Maßen einflussreicher Politiker. Wie ist das möglich? Ganz einfach: Weil die Labour-Partei in der Brexit-Debatte so gut wie mucksmäuschenstill ist, weil sie nicht einmal das Argument vorbringt, dass europäische Sozialstandards den menschenfeindlichen Auswüchsen der Globalisierung entgegenwirken, muss Theresa May machen, was ihr EU-feindlicher Parteiflügel will.

Weil die Labour-Partei sich in diese Debatte nicht einmischt, kann Theresa May nicht den goldenen Mittelweg oder auch nur irgendeinen Mittelweg suchen. Ziemlich sicher ist, dass der sogenannte harte Brexit, wie er nun angeleiert wird, zur Erhöhung der Lebenshaltungskosten in Britannien führen wird. Das trifft die Armen mehr als die Reichen. Den Hartgesottenen in der Tory Party ist das egal, weil sie wohlhabend genug sind und sich an der Splendid Isolation Britanniens ohne Dreinreden aus Brüssel erfreuen wollen. Jeremy Corbyn, Fürsprecher der Armen und sozial Abgehängten, hat offenbar nicht begriffen, in welcher Zeit er lebt. Sein Nichts-Tun, sein Nichts-Sagen macht Corbyn zu einem äußerst einflussreichen Politiker. Das ist das Corbyn-Paradoxon. Ein weiteres besteht übrigens darin, dass ausgerechnet die Financial Times dieses festgestellt hat. Als linkes Kampfblatt war sie bisher nicht bekannt.

Noch ein anderes Paradoxon hat Hans-Werner Sinn entdeckt, der frühere Chef des Ifo-Instituts in München: Er ist ein Freund des Freihandels - so wie die britischen Tories. Und seiner Ansicht nach wird es dem Freihandel nur nützen, wenn Menschen in Europa eben nicht die Möglichkeit haben, mühelos von einem Land in ein anderes umzuziehen, um dort zu arbeiten: "Ohne Wanderungen ergeben sich nämlich größere Abweichungen zwischen den Lohnstrukturen der Länder als mit Wanderungen." Und wo billiger produziert werde, könne ein Land eben auf dem Markt besser bestehen. Das klingt einleuchtend, ist aber paradox: Die verfügbaren Zahlen belegen, dass Wanderung allen Volkswirtschaften hilft. Paradox ist es auch, weil die EU gegründet wurde, um Kriege jeder Art, und seien es Handelskriege, zu vermeiden.

© SZ vom 24.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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