Aufzüge und Lifte:"Bitte nehmen Sie Aufzug B"

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Computer schleusen Menschenmassen effektiv durch moderne Fahrstuhlanlagen - solange die Menschen mitspielen.

Christopher Schrader

Dem einst in vielen deutschen Hochhäusern üblichen Paternoster war es stets egal, wohin seine Fahrgäste wollten. Stoisch schob der urtümliche Aufzug seine offenen Kabinen nach oben und nebenan nach unten. Sie hingen an einer Kette wie die Perlen auf dem Rosenkranz, mit dem Katholiken ihre Ave-Marias und Vaterunser zählen - daher der Spitzname. In welchem Stockwerk Fahrgäste den offiziell Personenumlauf-Aufzug genannten Lift verließen, ob sie beim Einstieg plauderten oder sich auf den Schritt in den schrankartigen Fahrkorb konzentrierten, wie viele Menschen sich in einer Kabine drängten, ob sie verbotenerweise Lasten transportierten oder abenteuerlustig das Schild "Letztes Stockwerk, Weiterfahrt ungefährlich" missachteten, all das registrierte die Mechanik nicht. Keine Mikrochips waren zur Steuerung nötig; nirgendwo konnte irgendwer einen Knopf drücken, um den Lauf der Kabinen zu beeinflussen - außer auf die Notbremse natürlich.

Rund um den Aufzug schraubt sich das Treppenhaus der Ulmer Bibliothek hoch. (Foto: Foto: dpa)

In modernen Hochhäusern wachen Computer über die vertikale Personenbeförderung - 125 Jahre, nachdem 1884 der erste Paternoster in England installiert wurde. Diesen Technologiesprung hat auch die Redaktion der Süddeutschen Zeitung im November 2008 mit dem Umzug in ein neues Verlagsgebäude erlebt. Im denkmalgeschützten Redaktionssitz an der Sendlinger Straße gab es einen Paternoster, im Hochhaus an der Hultschiner Straße hängen zwischen den Türen der sechs Aufzüge berührungsempfindliche Bildschirme. Das gehört mittlerweile zur Ausstattung moderner Bürogebäude. Um von einem Stockwerk in ein anderes zu gelangen, tippen Mitarbeiter und Besucher ihr gewünschtes Ziel auf dem Bildschirm ein. Ein Steuerungscomputer weist einen Fahrstuhl zu, der sich in den folgenden Sekunden (bis Minuten) öffnet. Innerhalb der Kabine lässt sich das Ziel nicht mehr ändern.

Aufgaben, die erst nach und nach auftreten

"Zielrufauswahl" heißt das nach neuesten Methoden der Mathematik entwickelte Konzept, das Aufzughersteller den Bauherren neuer Hochhäuser anbieten. Im Prinzip könnte der Computer den Fahrgästen sogar voraussagen, wie viele Sekunden sie warten müssen. Und bei großem Andrang wechselt die Anlage die Strategie, mit der sie ihre Passagiere den Kabinen zuweist.

"Fahrstühle in Echtzeit zu kontrollieren, ist eines der schönsten Beispiele für sogenannte Online-Steuerungsverfahren", sagt der Mathematiker Benjamin Hiller vom Konrad-Zuse-Zentrum für Informationstechnik in Berlin. Unter dieser Art von Problemen verstehen Wissenschaftler die Steuerung von Maschinen, deren Aufgaben erst nach und nach bekannt werden. Der Aufzug erfährt ja erst durch die Zieleingaben der Passagiere, wohin er soll, anders etwa als ein monoton arbeitender Schweißroboter in der Autofabrik. "Die beste Lösung kann man nur finden, wenn man genügend Information hat", sagt Hiller. "Geben die Passagiere ihr Ziel erst in der Kabine an, lässt sich nicht mehr viel machen."

Seit 1970 möchten Aufzug-Entwickler daher die Fahrgäste schon im Korridor vor den Aufzügen nach ihrem Ziel fragen - doch der Erfinder, ein Forscher aus Manchester, erkannte schnell, dass die Rechenkapazität seiner Ära für die nötige Steuerung nicht ausreichte. Stattdessen haben Planer bauliche Lösungen gesucht. In manchen Hochhäusern fahren die Lifte nur Blöcke von Stockwerken an, oder nur ungerade Etagen, oder es gibt Express-Aufzüge zu einer zentralen Umsteigezone irgendwo auf halber Höhe, von der aus sich hereinströmende Mitarbeiter weiter verteilen.

Neun Arbeitsstunden Gewinn

Neuerdings soll der Computer die Fahrwege optimieren. Das Gerät weiß im Prinzip alles: Wo die Kabinen sind und wo sie hin müssen, wie viele Menschen wo in welchem Stockwerk warten, wie lange die Fahrten sowie das Türenöffnen, Aussteigen, Einsteigen, Türenschließen in Abhängigkeit von der Personenzahl dauert. Korrekt verrechnet, führen diese Daten zu schnellerer Beförderung. Benjamin Hiller, der auch Mitglied im Berliner DFG-Forschungszentrum Matheon ist, hat das anhand eines Modellhauses mit 16 Stockwerken und vier Aufzügen berechnet. Während bei einem konventionellen System die Fahrgäste morgens im Mittel 89 Sekunden in ihr Stockwerk brauchen, sind es mit Zielrufauswahl 64 Sekunden. Die maximalen Reisezeiten sanken in seiner Simulation sogar von 272 auf 184 Sekunden.

In den 27 Stockwerken des Süddeutschen Verlags verringert die Computer-Steuerung die Beförderungszeiten um 28 Prozent, wenn die Fahrstühle an ihrer Kapazitätsgrenze arbeiten, schätzt Gerhard Thumm vom Aufzugshersteller Thyssen-Krupp Elevator. Eine kurze Hochrechnung zeigt, dass allein die Zeit, die alle Angestellten zusammen morgens weniger im Aufzug verbringen, jeden Tag fast neun Arbeitsstunden ausmacht.

Um das zu erreichen, rechnet der Computer mit festen Zeitspannen: Türöffnen und -schließen: jeweils zwei Sekunden; Aus- oder Einsteigen: knapp eine Sekunde pro Person; ein Stockwerk fahren: sieben Sekunden, fünf Stockwerke am Stück fahren: zwölf Sekunden, vom Erdgeschoss zum großen Konferenzraum in der 25. Etage: 27 Sekunden reine Fahrzeit. Der Aufzug braucht also auf langen Strecken weniger Zeit pro Stockwerk als auf kurzen - ein weiterer Grund, die Fahrgäste zu bündeln.

Mit diesen Daten beginnt der zentrale Computer bei jedem neuen Knopfdruck zu planen. Er berechnet für jeden Aufzug die zusätzlichen Sekunden, die ihre Fahrgäste länger unterwegs wären, wenn er den neuen Passagier dort zuweist. Dabei muss die Steuerung den hochgerechneten Zeitverlust der schon gebuchten Fahrgäste, die weiter fahren als der Neuzugang, mit dessen Wartezeit vergleichen. Am Ende bekommt der Aufzug den Zuschlag, der in der Summe die geringsten Warte- und Fahrtzeiten verursacht. Dabei ergibt sich sozusagen automatisch, dass die im morgendlichen Gedränge unten abfahrenden Fahrstühle jeweils etwa die gleiche Anzahl von Stockwerken anfahren, bevor sie ins Erdgeschoss zurückkehren.

In der Logik des Steuercomputers steckt viel geheimes Wissen, die Aufzugfirmen reden nicht gern über die Details; ein genauerer Blick auf das SZ-Fahrstuhlsystem wurde jedoch gestattet. Die Fachleute sprechen von "Kosten", denn die Sekundenwerte, die in die Berechnung einfließen, können unterschiedlich gewichtet werden. Werden sie einfach addiert, ergibt sich ein anderes Ergebnis, als wenn der Rechner die Ergebnisse für jeden Fahrgast vorher quadriert. Dann bekommen nämlich besonders lange Wartezeiten oder Fahrtdauern ein überproportionales Gewicht, die Steuerung würde sich anders entscheiden. Außerdem können die Hersteller wählen, ob das System die Wartezeit vor dem Fahrstuhl oder die gesamte Reisedauer der Passagiere minimieren soll.

"Sportliche Vorgabe"

Die Anlage im Verlagshaus der SZ schaltet automatisch zwischen diesen Optionen um, berichtet Gerhard Thumm. Bei wenig Andrang ist die Wartezeit das wichtigste Kriterium. "Wir bekämpfen dann den gefühlten Ärger, dass der Aufzug nicht kommt." Bei hohem Verkehrsaufkommen hingegen geht es darum, das Ziel möglichst schnell zu erreichen. Dann steigt die mittlere Wartezeit von 12,7 auf 14 Sekunden, während die Fahrgäste im Mittel nach 76 statt nach 80 Sekunden auf ihrer Etage ankommen.

Diesen Strategiewechsel vollzieht die Steuerung, wenn die Aufzüge nahe an ihrer Kapazitätsgrenze fahren. Sie sind darauf ausgelegt, in jeweils fünf Minuten 14 Prozent der anwesenden Mitarbeiter zu transportieren; im Süddeutschen Verlag sind das 147 Fahrgäste pro Fünf-Minuten-Intervall. "Solche Anforderungen schwanken zwischen zwölf und 15 Prozent", sagt Thumm. "Die Vorgabe von 14 Prozent ist schon sportlich."

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Um sicherzustellen, dass die Aufzüge die Aufgabe auch schaffen, haben die Ingenieure von Thyssen-Krupp Elevator die Steuerung vorher per Computersimulation getestet. Fahrgäste erscheinen hierbei auf dem Bildschirm als kleine blaue Punkte vor den Aufzügen, geben ihre Fahrtwünsche ein und steigen in die ankommenden Kabinen. Die Planer des Systems konnten so die Stoßzeiten nachstellen, wenn morgens die Arbeit beginnt und die Angestellten mittags in die Kantine strömen. Die Verkehrsmuster dafür lieferte ein spezielles Software-Paket. Es fütterte die virtuelle Aufzugsteuerung mit zufällig erzeugten Fahrtwünschen in gewünschter Anzahl und Verteilung.

Allerdings verhalten sich reale Nutzer nicht so wie die Lichtpunkte in der Simulation. Die Theorie setzt nämlich darauf, dass jeder Fahrgast sein Ziel eingibt. Tatsächlich schließen Mitarbeiter sich auch gern ohne Umweg zum Touchscreen einem Kollegen, von dem klar ist, dass er ins gleiche Stockwerk will. Dieses "Schwarzfahren" hat Nachteile für die Passagiere. Zum einen kann es sein, dass es im Fahrstuhl eng wird, weil der Computer weitere Kollegen zuweist. Oder der Fahrstuhl hält später an einem Stockwerk, um jemanden aufzunehmen, der nicht mehr hineinpasst.

Verzögernder Plausch zwischen "Tür und Angel"

Das zweite Problem ist subtiler: Wer sein Ziel nicht eintippt, verfälscht die Kosten, die durch einen weiteren Stopp auf dem Weg entstehen. Die Aufzugsteuerung weiß dann nicht, dass mehrere Personen Zeit verlieren, wenn ein Zwischenhalt geplant wird. Umgekehrt könnten Aufzugsnutzer versucht sein, sich mit diesem Wissen Vorteile zu verschaffen: Wer alleine fährt, aber zehnmal sein Ziel eingibt, müsste theoretisch die Wahrscheinlichkeit für Zwischenstopps und Mitfahrer verringern. Tatsächlich aber prüft die Aufzugsteuerung, ob die Gewichtszunahme der Kabine zu den Zielangaben passt. Bei einem auffälligen Missverhältnis gibt sie den betreffenden Aufzug für andere Fahrtziele frei.

Die sorgfältigste Lift-Software kann aber durcheinander geraten, wenn zum Beispiel Benutzer eine Unterhaltung beenden wollen und die Lichtschranke der Türen blockieren. Nach einer Weile nimmt die Aufzugesteuerung diesen Fahrstuhl aus der Planung heraus. So kann es passieren, dass anderswo ein Fahrgast minutenlang auf den Fahrstuhl B wartet, dann entnervt seinen Wunsch noch einmal eintippt und vom System zur Kabine E beordert wird, wo sich die Türen ohne Verzug öffnen.

Häufige Nutzer berichten zudem von einer skurrilen Form der Gewöhnung. Unterwegs in einem Hochhaus mit klassischen Aufzügen kommt es vor, dass Kollegen zwar beim Einsteigen, den Fahrstuhlknopf gedrückt haben, aber in der Kabine tatenlos bleiben, bis sie zufällig irgendwo landen. So etwas ist im Paternoster niemandem passiert.

© SZ vom 17. 07. 2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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