Audi II:Goethes Erben

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Der Versfuß holpert, doch das Vorbild ist deutlich erkennbar: Wie Johann Wolfgang von Goethes Gedicht "Erlkönig" den Weg zu Audi fand.

Von Thomas Steinfeld

Zu den wenigen Werken der Literaturgeschichte, denen kein deutscher Gymnasiast entgeht, gehört Johann Wolfgang von Goethes Ballade "Der Erlkönig" aus dem Jahr 1782: "Wer reitet so spät durch Nacht und Wind . . . " Sie wurde mehrmals vertont, von Franz Schubert wie von Rammstein, sie wurde in Romane und Filme verwandelt, sie lieferte das Material für unzählige Persiflagen und Anverwandlungen, die manchmal von Profis geliefert wurden (Heinz Ehrhardt, Otto), viel häufiger jedoch von Onkeln, Nichten und Kollegen, die damit auf Familienfeiern und Betriebsfesten glänzten.

Zur letzteren Variante des Umgangs mit dem "Erlkönig" gehört eine Bearbeitung des Gedichts, die ein Audi-Entwickler im Mai 2003 an einige Kollegen sandte und die nun der Bayerische Rundfunk im Rahmen seiner Recherchen zur Manipulation von Abgaswerten veröffentlichte. Allerdings wird der Ingenieur sein kleines Werk keinesfalls im Rahmen einer Feier vorgetragen, sondern lediglich einigen Vertrauten geschickt haben, auf deren Diskretion und zustimmendes Gelächter er glaubte, sich verlassen zu können.

Der Versfuß holpert, doch das Vorbild ist deutlich erkennbar: "Defeat device, komm her zu mir! / Gar schöne Spiele spiel ich mit dir; / Manch Schweinerei liegt auf der Hand, / die ich will verdecken mit einem Hystereseband" - der Ausdruck "defeat device" steht für eine illegale Abschalteinrichtung", mit "Hystereseband" wird die Verzögerung zwischen dem Erreichen eines Signalwerts und einer Reaktion auf diesen Wert bezeichnet. Überhaupt fällt auf, dass der unbekannte Poet großen Wert darauf legte, als Fachmann erkannt zu werden: "Willst feine Diagnose, du mit mir gehen? / Mein Disablebit soll dich wiegen schön." Zahllos sind die Deutungen zu Goethes Erlkönig. In den beliebtesten wird auf Pädophilie und den Missbrauch Minderjähriger spekuliert. Der dichtende Entwickler scheint von solchen Deutungen etwas gehört zu haben, denn er stellt sich in ihre Tradition: Offenbar begreift er sich als ehrlichen Ingenieur, als einen Mitarbeiter, der eigentlich nur seine, die richtige Technik will und sonst gar nichts.

Ein Automobilingenieur wird den Ausdruck "Erlkönig" auch in einer anderen, übertragenen Bedeutung kennen, als Bezeichnung für einen Prototyp, der in Verkleidung durch die Welt fährt, damit Konkurrenz und Publikum von den Zukunftsplänen eines Herstellers nicht allzu früh erfahren. Entstanden sein soll diese Metapher nicht, weil solche Fahrzeuge bevorzugt bei "Nacht und Wind" unterwegs sind, sondern weil die Fachzeitschrift Auto, Motor, Sport zu einer Persiflage des Gedichts griff, als sie im Jahr 1952 zum ersten Mal ein Foto eines solchen Prototypen veröffentlichte. Die launigen Verse sollten den Konventionsbruch, der in dieser Publikation lag, ins Humorige ziehen - ähnlich verhält sich ja auch die Persiflage des Entwicklers zu Taten, die er durchaus als Rechtsbruch erkennt.

Man weiß nicht, ob und wie laut die Kollegen des dichtenden Ingenieurs lachten, als sie in ihrer E-Mail den Vers lasen: "Siehst Kunde, du, den CARB Officer nicht, / den Amy mit Scantool und Handschellen?" Ein "Carb Officer" ist ein Vertreter der kalifornischen Umweltbehörde. Und erstaunlich ist es, dass solche Verfolgungsfantasien bereits im Jahr 2003 im Umlauf waren, während der Abgasskandal, ausgehend von Tests in Kalifornien, erst im September 2015 begann. Mindestens zwölf Jahre lang muss es folglich unter Audi-Entwicklern eine Art Komplizenschaft gegeben haben, über deren erzwungenen Charakter sie sich selbst keine Illusionen machten. In diesem Sinn ist das Gedicht zu verstehen: als hilflos lustiger Versuch, einer Gewissensnot zu entkommen.

© SZ vom 02.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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