Atomreaktor Krümmel:Eine Frage des Vertrauens

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Seit Juli steht Krümmel still. Die erneute Panne versetzt viele Nachbarn in Angst, im Kraftwerk aber hoffen alle nur auf einen Neustart - es geht um ihre Jobs.

M. Balser u. J. Schneider, Geesthacht

Der Brief fängt herzlich an. So wie Nachbarn im Mietshaus vor ihrer großen Party um Verständnis dafür bitten, dass es am Wochenende lauter wird. Wer gar nicht schlafen könne, so das Motto, solle doch einfach vorbeikommen. Und so schrieb auch Ernst Michael Züfle, der Atomchef des Energiekonzerns Vattenfall, Ende Juli einen Brief an die "lieben Nachbarinnen und Nachbarn". Gemeint waren damit die Menschen in der kleinen Stadt Geesthacht, eine halbe Autostunde östlich von Hamburg. Er schrieb an die Bewohner der Villen am Elbhang ebenso wie an die Leute drüben in der Marsch hinter dem Deich, wo an diesem Vormittag eine Schafherde grast. Sie alle sind Nachbarn des Atomkraftwerks Krümmel. "Wir möchten das Gespräch mit Ihnen führen und Ihre Meinung kennenlernen", heißt es in dem Brief. "Bitte setzen Sie sich mit unserem Informationszentrum am Kernkraftwerk in Verbindung. Wir wollen für Sie ein guter Nachbar sein." Ein gewagtes Versprechen. Denn ob sein Atomkraftwerk das tatsächlich ist, daran gibt es ernste Zweifel.

Reizthema Atomenergie: Gegner demonstrierten noch Ende Juni mit einer friedlichen Mahnmache vor Krümmel, damals entstand diese Foto. Nur rund zwei Wochen später gab es dann im AKW die nächste Panne. (Foto: Foto: dpa)

Jahrzehnte hatten sich die Hamburger wenig Gedanken gemacht über die Nähe zu Krümmel. Dass sie auch einige Kilometer elbabwärts noch immer nah am Meiler wohnen, spürten sie dann aber am 4. Juli dieses Jahres um 12.02 Uhr schlagartig. Von einer Sekunde auf die andere fielen fast alle Ampeln der Stadt aus. Industriebetrieben blieb der Strom weg, und in Wasserwerken arbeiteten die Pumpen nicht mehr. Der Stromausfall jagte vielen einen gehörigen Schrecken ein. Ihr Bürgermeister Ole von Beust (CDU) sagte, dass auch er persönlich erstmals irritiert gewesen sei. Der Strom aus einem Atomkraftwerk komme doch besonders verlässlich, habe er jahrelang gedacht.

Vertrauen? Welches Vertrauen?

In der weitläufigen Kontrollwarte von Krümmel wissen die Verantwortlichen, dass viele Menschen draußen ihnen nicht mehr vertrauen. Dabei wirkt hier alles kontrolliert, mit den vielen Bildschirmen, Leuchtanzeigen und den Landkarten der Umgebung. Die Karten, erklärt ein Mitarbeiter, dienen im Fall eines Unfalls der Evakuierung. "Je nach Windrichtung wissen wir, welche Gegenden betroffen sein könnten." Die 330 Beschäftigten kommen weiter täglich zur Arbeit. Statt Strom zu produzieren, müssen sie nun hinter dicken Betonwänden und Stacheldrahtzaun Fehler suchen und Geräte warten. Nur zwei Wochen lang lieferte die Milliardenanlage Strom - nach zwei Jahren Pause wegen der letzten Panne. "Und dann schon wieder Resa" - also eine Reaktorschnellabschaltung, wie der Stopp in der Kraftwerkersprache heißt. "Klar, dass die Nerven blank liegen", sagt der Produktionschef. "Die Stimmung im Kraftwerk ist am Boden." Dabei sollte die "Reise", so heißt die Zeit vom Anfahren bis zur nächsten Revision, eigentlich zwölf Monate dauern.

Vorbei. Arbeiter in weißen Schutzanzügen, Schuhüberziehern und Schutzhelmen haben den schweren Metalldeckel beiseite geschafft und den Reaktor geflutet. Sie wollen ihm auf den Grund schauen. Ein Brennstab ist defekt. "Das ist nichts Ungewöhnliches", sagt eine leitende Ingenieurin. So etwas komme immer wieder vor, auch in anderen Atomkraftwerken. Aber im Moment wird in Krümmel alles zigfach geprüft. Sie alle wissen: Jede Störung sorgt für Aufregung in der Öffentlichkeit. Jedes Mal geht es um ihre Jobs und vielleicht auch um die der ganzen Branche. In Deutschlands umstrittenstem Kernkraftwerk könnte sich die Zukunft der hiesigen Atomindustrie entscheiden. Wenn sie hier das Vertrauen nicht gewinnen, wird es schwer für die Betreiber von AKWs im ganzen Land.

Dabei sah es bis zum Kurzschluss am 4.Juli für die deutsche Atomlobby nicht schlecht aus. Steigende Energiepreise, die Gefahren des Klimawandels, die Abhängigkeit von fossilen Ressourcen - in den Zentralen der vier deutschen Atomkonzerne Eon, Vattenfall, RWE und Energie Baden-Württemberg (EnBW) durften sie wieder hoffen, dass eine Koalition aus CDU/CSU und FDP nach der Bundestagswahl den im September 2002 beschlossenen Atomausstieg kippen könnte. Doch die Krümmel-Panne hat das geändert. In einer Forsa-Umfrage spricht sich die Mehrheit der Deutschen nun wieder für das Festhalten am Atomausstieg aus. Die Politiker aller Parteien haben das registriert.

Jedes Wort zählt

Es ist Wahlkampf, und da zählt jedes Wort. Auch in Krümmel ist man vorsichtig. Nur wenige kommen derzeit hinein in die Anlage, die besser geschützt ist als manche Militärbasis. Wer den Reaktor von innen sehen darf, muss viele Stunden mitbringen. Jeder Besucher wird an immer neuen Schleusen geprüft. Es geht um die Sicherheit und natürlich um den Schutz vor Strahlung. Nur ein paar Minuten bleiben, um einen Blick zu werfen auf 80000 Brennstäbe mit hochangereichertem Uran. Die Strahlung steigt auf zwei Mikrosievert - zwei Tausendstel Millisievert. Die Begleiter von Vattenfall haben für die Sorgen der Besucher ihre Standardformel parat: Dies sei nur eine Dosis, wie man sie auf jedem Mittelmeerflug mitbekommt, sagt ein Strahlenschützer. Für die Mitarbeiter gelten eigene Regeln: Bei 15 Millisievert liegt die zulässige Jahresdosis. Wer sie erreicht hat, muss im Kraftwerk woanders arbeiten.

Auf einer Plattform in 52 Metern Höhe, hoch oben über dem Reaktorkern, klingt alles ganz harmlos. Und im Herz des Kraftwerks sieht es sogar harmlos aus: Links der geflutete Reaktor, rechts das Abkühlbecken für die Brennstäbe. Wie große, tiefblaue Swimmingpools sehen die Becken aus. Und doch besteht die leitende Ingenieurin wie alle hier darauf, dass ihr Name nicht in der Zeitung erscheint. Sie fürchte Folgen für ihr Privatleben, wenn ihr Name mit dem AKW in Verbindung gebracht werde, sagt sie.

Es ist ein eigenartiger Gegensatz: Der Konzern und seine Mitarbeiter wollen Offenheit demonstrieren. Und doch fühlt man sich hier bisweilen wie in einer Festung, in der das Misstrauen gegen die da draußen groß ist. Seit der jüngsten Panne seien Kollegen in Betriebskleidung unsanft aus Restaurants befördert worden. "Es war nur der Trafo", sagt die Ingenieurin und schüttelt den Kopf. "Es war kein Notfall, es war kein Störfall, es war ein Ereignis." Und das, so sagen sie hier, habe die Anlage wie geplant beherrscht. "Zu keiner Zeit bestand Gefahr."

Geplant beherrscht? Keine Gefahr? Die Sekunden vor der Schnellabschaltung liegen einen Monat zurück. Ein Monitor warnte die Schichtleiter in der Kontrollwarte: Kurzschluss im Transformator. AT 02 ist ein Riesenblock in hellgrauem Betonkasten, größer noch als eine Garage. Draußen vor dem Reaktor bringt er den Strom normalerweise auf die richtige Spannung von 400.000 Volt für die Überlandleitung den Berg hinauf Richtung Hamburg. Es knallte, erinnert sich ein Wachmann, die Löschanlage löste aus, weißer Dampf stieg auf. Die gewaltige Energie konnte das Kraftwerk nicht mehr verlassen. Die Folge: Notabschaltung. Ein Pulk aus 205 Steuerstäben mit Hafnium und Borkabid schießt vier Meter hoch in den Reaktor. Er bindet Neutronen und beendet in zwei Sekunden die nukleare Kettenreaktion.

Wartungsarbeiten im Kernkraftwerk Krümmel: Mitarbeiter stehen neben dem Brennelemente-Lagerbecken und dem Flutraum mit dem geöffneten Reaktor. (Foto: Foto: dpa)

Sofort läuft eine Welle aus 40.000 Fehlermeldungen in der Leitstelle ein. Um 12.18 Uhr berichtet der Schicht- seinem Betriebsleiter erleichtert: "Der Anlagezustand ist stabil, die Schutzziele eingehalten." Die Technik hat einen nuklearen Unfall verhindert, den Imagegau aber nicht. Schon zwei Jahre zuvor hatte der andere Trafo gebrannt: AT 01. Weithin sichtbar stiegen damals Rauchsäulen auf. Vattenfall-Chef Lars Göran Josefsson reiste eilig aus Schweden an, um seine damalige Europa-Führung wegen schlechter Informationspolitik in den Ruhestand zu schicken. "Viel Vertrauen wurde verspielt”, sagte Josefsson damals, und: Er stehe dafür, dass eine neue Sicherheitskultur einziehe.

Kontrolleinheit? Einfach vergessen!

Doch nun fragen sich die Nachbarn in Geesthacht, was daraus geworden ist. Nach zwei Jahren Pause war Krümmel im Juni ans Netz gegangen. Den defekten Trafo hatte der Konzern nicht etwa durch ein neues, sondern ein baugleiches gebrauchtes Modell eines anderen AKWs ersetzt. Baujahr: 1982. Vattenfall versprach der Atomaufsicht immerhin, eine neue Kontrolleinheit zu installieren. Doch nun entdeckten Landesbehörden, dass "versäumt" wurde, die auch einzubauen. Wie das mit neuer Sicherheitskultur vereinbar ist? "Eine gute Frage", sagt die leitende Ingenieurin.

Die Nachbarn sind sauer. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (CDU) ist sauer, weil er Vattenfalls neuen Europa-Verantwortlichen Tuomo Hatakka von der Notabschaltung informieren musste - nicht umgekehrt. Und auch die anderen Atombetreiber EnBW, RWE und Eon äußern Ärger hinter vorgehaltener Hand. Dass Krümmel schon wieder ausgefallen sei, hat Vattenfall-Chef Josefsson angeblich vom Chef des Mitbetreibers Eon erfahren, nicht von den eigenen Leuten. "Wir haben erneut viel Vertrauen verloren”, sagte Hatakka später. Kraftwerkschef Hans-Dieter Lucht musste den Posten räumen. Und Hatakka versicherte, er stehe mit seinem Namen dafür, "dass das Unternehmen seine Lehren zieht”.

Was wird sich diesmal ändern? In Krümmels Kontrollwarte können sie die Aufregung nicht verstehen. Die Kontrollsysteme mit ihren vielen hundert Leuchtanzeigen und Messgeräten hätten doch funktioniert. Und "die Mannschaft hat korrekt informiert", sagt ein Verantwortlicher. "Wir machen hier keine Politik. Uns geht es um die Sicherheit - erster Ansprechpartner ist die Polizei, nicht Manager." Nun sollen wenigstens zwei neue Trafos her. 16 Millionen Euro werden sie kosten. Es kann Monate dauern, bis sie geliefert werden und Krümmel wieder ans Netz geht. Eine teure Pause für Vattenfall. Denn jeder Monat Stillstand kostet viele Millionen Euro.

Doch Umweltschützer fordern längst, Krümmel nicht mehr ans Netz gehen zu lassen. Alte Anlagen ließen sich nicht auf den heutigen Sicherheitsstand bringen, warnt die Atomexpertin und Physikerin Oda Becker aus Hannover. Im Auftrag des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) hat sie ein Gutachten über die Sicherheit von Altanlagen vorgelegt. "Was da bei Vattenfall los ist, bereitet mir Kopfzerbrechen", sagt sie. Zwar sei die Wahrscheinlichkeit für eine Kernschmelze sehr gering, weiß auch Becker. Doch falls es dazu komme, bleibe bei Anlagen wie dem Siedewasserreaktor der Baulinie 69 kaum Zeit für die Evakuierung der Bevölkerung. Allenfalls 1,5 bis sechs Stunden vergingen, bis Radioaktivität freigesetzt würde, sagt Becker. "Die Chance, zu entkommen, ist gering."

"Wir sind ein zuverlässiger Betreiber"

Neue Anlagen mit dickerem Betonmantel erhöhen den Zeitraum dagegen auf zwei bis drei Tage. Zudem seien bei neuen AKWs elektronische Sicherheitssysteme, etwa der Brandschutz, effektiver. "In der Fachwelt besteht Einverständnis, dass die älteren Anlagen teilweise über geringere Sicherheitsreserven verfügen als jüngere", erklärt auch das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS). Theoretisch wären die alten Anlagen heute nicht mehr genehmigungsfähig. Hinzu kommt: Das AKW Krümmel funktionierte in den vergangenen Jahren alles andere als pannenfrei: 314 meldepflichtige Probleme zählte das BfS seit der Inbetriebnahme. Damit liegt Krümmel in der Pannenstatistik in einer Liga mit Uraltreaktoren wie Biblis.

Während sich in der Zentrale des Energiekonzerns Vattenfall in Berlin eine Krisensitzung an die nächste reiht, bittet Atommanager Züfle schon mal um Anregungen der benachbarten Haushalte für neue Gesprächsrunden. "Das Kraftwerk wird mit neuen Trafos wieder ans Netz gehen", kündigt Züfle an. "Krümmel ist eine sichere Anlage und wir sind ein zuverlässiger Betreiber", schreibt er und lässt die Nachbarn höflich wissen: "Das wollen wir Ihnen gerne beweisen."

© SZ vom 14.08.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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