Aktienausblick:Goldene Löckchen

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Goldlöckchen probiert von drei Schüsselchen mit Brei: Der erste ist zu kalt, der zweite zu heiß, erst der dritte passt. Ökonomen haben das Bild auf die Wirtschaft übertragen: Ideal ist eine Konjunktur, die nicht zu kalt ist, um in die Rezession zu rutschen, und nicht zu heiß, um die Inflation anzuheizen – so wie gegenwärtig. (Foto: mauritius images)

Die Investoren sprechen von einem Märchen: Die Wirtschaft brummt, die Preise steigen moderat, die Zinsen sind niedrig. Deshalb boomt auch die Börse. Doch es mehren sich die Sorgen.

Von Harald Freiberger und Jan Willmroth

Die Bedingungen an den Kapitalmärkten sind gerade märchenhaft, und das gilt auch im wörtlichen Sinn: "Goldlöckchen-Szenario" nennen Ökonomen das, was sich derzeit weltweit in der Wirtschaft abspielt. Gemeint ist damit die Kombination aus solidem Wachstum, mäßiger Inflation und niedrigen Zinsen. Sie gilt als ideal für Investoren.

In fast jedem Ausblick der Ökonomen auf das Jahr 2018 fand sich das Wörtchen Goldilocks, die englische Übersetzung von Goldlöckchen, häufig verbunden mit der bangen Frage, wie lange dieser paradiesische Zustand noch anhalten wird. Die Risiken nehmen im Laufe des neuen Jahres jedenfalls zu.

Das Märchen "Goldlöckchen und die drei Bären" ist vor allem in England und den USA verbreitet. Es erzählt von drei Bären, die ihr Haus verlassen, um den gekochten Brei abkühlen zu lassen. In der Zwischenzeit erkundet ein kleines Mädchen, Goldlöckchen, das Haus, und probiert vom Brei. Der im ersten Schüsselchen ist zu kalt, der im zweiten zu heiß, erst der Brei im dritten Schüsselchen ist gerade recht. Angelsächsische Ökonomen nennen eine Wirtschaft, bei der alles passt, deshalb Goldilocks-Economy. Sie ist nicht zu kalt, um in eine Rezession zu führen, und nicht zu heiß, um zu überhitzen und die Inflation anzutreiben; gegen diese müssten die Notenbanken nämlich mit höheren Zinsen ankämpfen und würden so das gute Klima für Konjunktur und Börse abwürgen.

Weltweit hat sich die Wirtschaft im abgelaufenen Jahr nach und nach in einen solchen Idealzustand manövriert. Blickt man auf die Prognosen zurück, die vor einem Jahr für 2017 gemacht wurden, war das nicht abzusehen. Kein Ökonom hatte vorausgesagt, dass die deutsche Wirtschaft in dem Jahr um jene 2,3 Prozent wachsen würde, die es nun voraussichtlich werden. Weltweit betrug das Wachstum 3,5 Prozent, so viel wie seit 2011 nicht mehr.

"Dieser Aufschwung ist ein Dauerlauf, kein Sprint - seltsam, dass alle so skeptisch sind."

Fast alle Beobachter hatten die politischen Risiken überschätzt, die vor einem Jahr das Bild trübten: Die Pläne des neuen US-Präsidenten Donald Trump, so die Befürchtungen, könnten in weltweiten Protektionismus münden, der Brexit das Wachstum in Europa hemmen, die Wahlen in den Niederlanden, in Frankreich und Deutschland zu einem Rechtsruck führen. All das ist nicht eingetreten, stattdessen boomt die Wirtschaft synchron in allen wichtigen Regionen der Welt, ob in Europa, in den USA, in China oder anderen Schwellenländern.

Die Folge war, dass 2017, ebenfalls zur Überraschung fast aller Ökonomen, die Aktienmärkte boomten, und zwar schon im achten Jahr in Folge. Rekorde überall: Der Deutsche Aktienindex (Dax) legte im vergangenen Jahr um gut zwölf Prozent auf knapp 13 000 Punkte zu, der US-Index S&P 500 um 20 Prozent, der US-Technologieindex Nasdaq sogar um fast 30 Prozent.

Die Zunft der Ökonomen ist deshalb noch dabei aufzuarbeiten, wie es sein konnte, dass sie 2017 so weit danebenlag. "Politische Risiken schüchtern die Unternehmen nicht ein", sagt Ulrich Kater, Chefvolkswirt der Fondsgesellschaft Deka. Unternehmen reagierten nicht auf Ankündigungen, sondern auf konkrete Handlungen, und da sei 2017 wenig passiert. "2018 wird der Aufschwung zum längsten in der Geschichte der Bundesrepublik", sagt Kater. Dieser Aufschwung sei kein Sprint, sondern ein Dauerlauf. Er findet es "seltsam, dass alle so skeptisch darauf schauen". Von einer Überhitzung könne keine Rede sein. Nicht zu heiß, nicht zu kalt - da ist es wieder, das Goldlöckchen-Szenario.

Vor einem Jahr hielten viele Experten Aktien schon für zu teuer und warnten vor Kurseinbrüchen. Doch dann erübrigte sich ein politisches Risiko nach dem anderen: Die Wahlen in Europa gingen gut aus, der Brexit zeigte keine negativen Wirkungen, von Trump kamen keine Querschüsse. Plötzlich war der Weg frei für eine Konjunktur, die an allen Ecken der Welt anzog. Das ließ die Gewinne der Unternehmen sprießen und machte zugleich ihre Aktien billiger, da das Verhältnis von Kurs und Gewinn die zentrale Messgröße für die Bewertung der Papiere ist.

"Viele Anleger hatten sich aus Misstrauen zurückgehalten und wurden dann von der wirtschaftlichen Realität überholt", sagt Anja Hochberg, die bei der Schweizer Bank Credit Suisse für globale Anlagelösungen zuständig ist. Die Investoren hätten die Stärke der Rally unterschätzt und stiegen deshalb jetzt noch ein. "Jetzt darauf zu warten, dass der Zyklus vorbei ist, wäre ein Fehler, wir bleiben grundsätzlich optimistisch gegenüber Aktien", sagt sie. Die politischen Risiken seien nicht mehr annähernd so groß wie noch vor einem Jahr. "Eine große Rezession halten wir in den kommenden fünf Jahren für unwahrscheinlich", sagt Hochberg. "Möglicherweise haben wir noch ein Drittel des Konjunkturaufschwungs vor uns."

Die Bank-Expertin stimmt damit in den Optimismus von Janet Yellen ein, der scheidenden Chefin der US-Notenbank Fed. Die sprach davon, dass es "zu unseren Lebzeiten" keine Finanzkrise mehr geben werde.

Solche Einschätzungen kommen in diesen Tagen von vielen Seiten. "Wir erleben jetzt schon einen der längsten Bullenmärkte der Geschichte", sagt Stefan Kreuzkamp, Chef-Stratege von DWS, der Fondsgesellschaft der Deutschen Bank. Es sehe nicht so aus, als würde er absterben, die Rally sei noch nicht zu Ende. Zwar sei man im Zyklus schon sehr weit fortgeschritten, dennoch dürfte sich die gute Entwicklung der Aktienmärkte und auch der Weltwirtschaft insgesamt fortsetzen. Beim Wirtschaftswachstum gehen die meisten Ökonomen für 2018 sowohl für Deutschland als auch weltweit von ähnlich starken Raten aus wie im vergangenen Jahr - mit ähnlich positiven Folgen für die Gewinne der Unternehmen.

Entsprechend positiv sind die Experten auch für die Aktienmärkte in diesem Jahr gestimmt. "Die Gewinne der Unternehmen im Dax könnten auch 2018 wieder knapp zweistellig wachsen", sagt Marco Herrmann, Chef der Münchner Fondsverwaltung Fiduka. Rechne man noch die Dividenden dazu, die zuletzt stets bei rund drei Prozent lagen, könnte der Dax bis Ende des Jahres durchaus auf 14 500 Punkte steigen, ohne dass der Markt teurer werden müsse. Auch die meisten anderen Prognosen sehen den Dax Ende 2018 bei mindestens 14 000 Punkten.

"Den Pessimisten gehen die Argumente aus", sagt Klaus Bauknecht, Chefvolkswirt der IKB-Bank. Es gebe eine Reihe von Gründen, die ihn weiter positiv stimmen: Die inflationsbereinigte Rendite von festverzinslichen Anlagen wie Anleihen bleibe auf absehbare Zeit negativ. Das heißt, dass es kaum Alternativen zu realen Werten wie Aktien gibt. "Die EZB ist auch nicht in Not, die Wirtschaft abzukühlen, so dass es Aktien belasten würde." Goldlöckchen lässt grüßen.

Für 2017 wurden Risiken über- und Chancen unterschätzt. Diesmal könnte es umgekehrt sein

Manchen ist diese Sicht allerdings zu optimistisch. Schließlich dauert kein Goldlöckchen-Szenario ewig, das liegt schon in der Natur der ökonomischen Entwicklung, die stets in Wellen und Phasen abläuft. "Die Jahre 2017 und 2018 dürften den Gipfel dieses Konjunkturzyklus markieren", sagt Joachim Fels, Chefvolkswirt des Anleihenspezialisten Pimco. In den USA trete der Zyklus in diesem Jahr bereits in seine Spätphase. "Investoren sollten sich auf die Risiken vorbereiten, die im Jahresverlauf 2018 und darüber hinaus immer deutlicher zutage treten dürfen." Auch Fiduka-Experte Herrmann geht davon aus, dass "Ende 2018 das konjunkturelle Momentum nachlassen könnte".

Die Skeptiker geben zu bedenken, worauf der gegenwärtige weltweite Wirtschaftsboom gründet: Er ist auch eine Folge der Politik des billigen Geldes, die die Notenbanken aller industrialisierten Regionen seit Ausbruch der Finanzkrise 2008 verfolgen, ob in den USA, in Europa oder, noch länger, in Japan. Es ist kein natürlicher Aufschwung, den Unternehmen und Verbraucher aus sich selbst heraus geschaffen haben, es brauchte dafür den Anstoß von außen. Und das wirft die Frage auf, was passiert, wenn dieser Anstoß zurückgefahren wird und irgendwann ganz ausbleibt, weil er eine Reihe negativer Folgen mit sich bringt: Die niedrigen Zinsen führen dazu, dass Sparer enteignet werden und bergen die Gefahr, dass Blasen bei Aktien und Immobilien entstehen.

"Für Sorglosigkeit ist in einer Welt, die von Notenbanken mit Liquidität überschüttet wird, kein Platz", sagt Alexander Krüger, Chefvolkswirt des Bankhauses Lampe. Trotz aller Goldilocks-Szenarien bestünden gewichtige Risiken: Die Gesamtverschuldung vieler Länder steige weltweit noch, in China sei die Verschuldung aus dem Ruder gelaufen, hinzu kämen schwere geopolitische Risiken wie in Nordkorea. "Krisen sind kein Auslaufmodell, wir sehen das anders als Janet Yellen", sagt Krüger.

Für 2017 lagen viele Ökonomen mit ihren Prognosen daneben: Sie überschätzten die Risiken und unterschätzten die Kraft der Konjunktur. Es könnte gut sein, dass es diesmal umgekehrt ist. Die Gefahr ist nicht gering, dass Ende 2018 nicht mehr Goldlöckchen zitiert wird, sondern ein anderes Märchen: Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen.

© SZ vom 09.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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