Agenda Lula:"Wenn sie das schaffen, sind sie ein Anker für ganz Lateinamerika"

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Nach einem halben Jahr an der Macht gilt der neue Präsident als die personifizierte Sozialreform - Entwicklungshelfer in aller Welt wollen, dass er Erfolg hat.

Michael Bauchmüller

(SZ vom 13.06.2003) — Das hier ist kein Ort für Gouverneure. Die Pisten staubig von rotem Sand, die Hitze sengend, die Menschen in Strohhütten von drei Metern auf drei Metern: Nossa Esperanca, eine Landlosensiedlung im Nordosten des Bundesstaates Piauí, dem Armenhaus Brasiliens.

Nossa Esperanca, das heißt auf deutsch: unsere Hoffnung, und meint die 500 Familien, die sich hier im Januar niedergelassen haben. Widerrechtlich, denn das Land gehört einem anderen: einem der vielen Großgrundbesitzer Brasiliens. Der aber hatte die Felder nicht bewirtschaftet, und so haben die Landlosen sie besetzt - in der Hoffnung, nicht mehr gehen zu müssen. So funktioniert Umverteilung in einem Land, in dem man sich nehmen muss, was man zum Leben braucht.

"Unsere Hoffnung" — "unsere Verzweiflung"

In anderen Ländern wäre Nossa Esperanca ein Ort für die Polizei und nicht für die hohe Politik, doch genau die reist heute an: leibhaftig in Gestalt des Gouverneurs Wellington Dias. Im Januar, als in Brasilia der neue Präsident Luiz Inácio Lula da Silva antrat, übernahm Dias den Gouverneursposten in Piauí. Auch er gehört Lulas Arbeiterpartei PT an, auch er steht für Neuanfang und den Wandel Brasiliens. Auch er weiß, dass "Unsere Hoffnung" genauso gut "Unsere Verzweiflung" heißen könnte. Auf Leuten wie Lula und Dias ruht die Hoffnung der Massen: in den Favelas, in Landlosensiedlungen, aber auch im Mittelstand.

Kein Wunder: Lula verspricht nicht weniger als die Umwälzung eines Systems, das zerrissen ist in arm und reich, in Besitzende und Hungernde - obwohl es mit seinen natürlichen Reichtümern genug für alle böte. "Die Hälfte der Bevölkerung kann nicht schlafen, weil sie Hunger hat, und die andere Hälfte schläft nicht, weil sie Angst vor denen hat, die Hunger haben", hat der PT-Aktivist Aloizio Mercadante einmal über Brasilien gesagt.

Wer es sich leisten kann, lässt sein Haus bewachen. Wer nicht, der klaubt Geld zumindest für Stacheldraht und Gitter zusammen. Mehr als ein Fünftel der Brasilianer, so schätzen die Vereinten Nationen, hat nicht mehr als zwei Dollar am Tag zum Leben. Die ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung verfügen über ein Prozent des nationalen Einkommens, während die reichsten zehn Prozent mehr als die Hälfte davon für sich beanspruchen.

Der Kampf der "Bewegung der Landarbeiter ohne Land", der MST, die überall im Land Besetzungen wie Nossa Esperanca organisiert, ist nur Indiz für die sozialen Verwerfungen im Land.

"Klar haben wir Angst"

Die Menschen nehmen sich das Land, das ihnen freiwillig niemand geben würde - und riskieren, mit Gewalt vertrieben zu werden. "Klar haben wir Angst, dass wir überfallen werden", sagt Luiz, einer der Landlosen. "Wir brauchen jetzt vor allem die Sicherheit, dass wir hier bleiben dürfen." Dazu müsste der Besitzer enteignet werden. Das Verfahren läuft, und der neue Gouverneur will sich dafür einsetzen.

Mit rhythmischem Klatschen bringen die Leute von Nossa Esperanca den Laster zum Wippen, der sie regelmäßig mit frischem Wasser versorgt. Hier oben, auf der leichten Wölbung des Tanks, kann man noch viel besser sehen, wie der Gouverneur im Camp ankommt.

Für die Landlosen ist der Besuch mehr als ein gut gemeintes Symbol: Es ist der Beweis, dass ihre Sorgen in der neuen Regierung ernst genommen werden. "Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes bewegen sich die Institutionen in die Hungerregionen", sagt ein deutscher Diplomat, "und es ist unfasslich, mit welch schrecklichen Eindrücken sie zurückkehren." Die Solidar-Botschaft kommt an. "Wenn Lula und seine Leute uns brauchen, bekommen sie alle Unterstützung", sagen Männer im Schatten einer Hütte.

Der Gouverneur kommt nicht alleine, und ob er von selbst gekommen wäre, weiß man nicht. Deutschlands Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) hat ihn hergeschleust. Mit einigen Schecks im Gepäck reiste die Ministerin vergangene Woche nach Brasilien. 10.000 Euro für die Landlosen, fünf Millionen für die Armutsbekämpfung in Piauí, insgesamt 40 Millionen Euro für den Regenwald.

Wie elektrisiert

Entwicklungshelfer aus aller Welt, hier wie dort im Kampf mit knappen Kassen, sind wie elektrisiert vom neuen Staatschef. Mit seinem Programm Fome Zero - "Null Hunger" - hat er die Herzen im Sturm erobert, nicht nur im Inland. Bis 2007 will er den alltäglichen Mangel vertrieben haben. Lula, der schmächtige Mann mit dem grauen Vollbart, gilt mittlerweile als die personifizierte Sozialreform.

Noch im letzten Winkel Brasiliens will er die Armut besiegen, den Menschen neue Chancen aufzeigen und zugleich die Wirtschaft ankurbeln. Ein Jahrhundertprojekt - und deshalb eines, das viele unterstützen wollen. "Wenn Lula das schafft, dann setzt er ein Signal für die ganze Welt", sagt Wieczorek-Zeul. "Ein Brasilien ohne Hunger könnte ein Anker für ganz Lateinamerika sein."

Insgesamt 46 Millionen Brasilianer in 1000 Gemeinden will Fome Zero mit Hilfe von Lebensmittelgutscheinen vom Hunger befreien. Und langfristig sollen die Betroffenen sich aus eigener Kraft ernähren können - über 60 verschiedene Entwicklungshilfe-Maßnahmen will die neue Regierung anschieben.

Seit Anfang Februar läuft Fome Zero, und Piauí ist die Pilotregion. "Wenn unsere Arbeit Früchte trägt, dann zeigen wir einen Weg auf, dem andere Länder folgen können", glaubt auch Rosangela Sousa, die das Programm in Piauí koordiniert.

Investoren nähern sich nur langsam

Doch der Hunger ist nur Symptom, die Ursachen liegen tief. Eine davon ist das Ungleichgewicht zwischen dem armen Norden und dem prosperierenden Süden des Landes, eine andere der Mangel an Selbstvertrauen, der sich in der armen Bevölkerung breit gemacht hat. Noch eine andere sind die Weltmärkte, die Brasiliens Hauptexport, Agrargüter, nur in Grenzen aufnehmen - und so Exportzuwächse verhindern.

Und schließlich die Finanzmärkte, die erst langsam wieder Vertrauen in die brasilianische Wirtschaft fassen - nachdem sie im vorigen Jahr rasant Kapital aus dem Land abgezogen hatten. Hier liegen Lulas Herausforderungen, wenn er das Schwellenland Brasilien über die Schwelle heben will.

"Gott hat die Welt geschaffen - wir bauen Conjunto Palmeiras." Das Plakat im Gemeindehaus von Palmeiras, einem 30000-Einwohner-Viertel inmitten der Millionenstadt Fortaleza, klingt nach Aufbruch. "Als wir hier 1973 ankamen, gab es kein Wasser, keinen Strom, keine Kanalisation", sagt Sandra Magalhaes, Sprecherin des Conjuntos. Dergleichen gibt es nun. "Unser Werk", sagt Magalhaes. Aus ihrem alten Viertel hatten die Leute fortziehen müssen, weil Immobilienhaie ein Auge auf das schöne Bauland am Meer geworfen hatten.

"Solidarökonomie"

Hilfe zum Neuanfang kommt von der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ), die nötigen Mittel gibt das deutsche Entwicklungshilfeministerium. Gemeinsam mit den Bewohnern betreibt die GTZ die "Banco Palmas", eine Bank, die Kredite an die Bewohner vergibt.

Ziel ist die Errichtung einer "Solidarökonomie": Die Bewohner erhalten Geld für den Aufbau kleiner Unternehmen, aber auch für den Konsum. Die selbst gefertigten Produkte, etwa Schuhe, Lebensmittel, Wasch- und Putzzeug, werden unter anderem im gemeindeeigenen Laden verkauft. "Wir vergeben nicht den Kredit um des Kredites willen", sagt Magalhaes. "Jeder Bürger ist Konsument und Produzent zugleich. Das wollen wir nutzen." Und damit es auch genug Produzenten gibt, unterhält die Gemeinde eine kleine Schule für Existenzgründerinnen.

Was nach einem liebens-, aber nicht weiter bemerkenswerten Projekt klingt, birgt einen Schlüssel zur Überwindung der Armut. Lebensmittelgutscheine lösen keine Probleme, wenn die Menschen bestenfalls Statisten der Ökonomie bleiben. Doch in der Zwei-Klassen-Gesellschaft Brasiliens fehlte vielen bislang der Mut, sich auf eigene Beine zu stellen.

Wenn sie Mut hatten, fehlte das Geld. Kredite geben Banken für gewöhnlich nur denen, die besitzen, und das auch nur zu einem immensen Preis. Bei rund 180 Prozent liegen derzeit die durchschnittlichen Zinsen für Konsumentenkredite. Die Banco Palmas nimmt maximal drei Prozent. In 99 Prozent der Fälle erhält sie ihr Geld zurück.

Eigene Wertschöpfung

Ein ähnliches Projekt betreibt die Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft (DEG) zusammen mit der Weltbank und einer brasilianischen Entwicklungsbank: die CrediAmigo. Seit 1998 hat CrediAmigo Kredite an rund 120000 Kunden gegeben. "Ich war lang genug selbst in der Entwicklungshilfe tätig", sagt DEG-Chef Winfried Polte. "Irgendwann hab ich gemerkt: Das alles reicht nicht, wenn die Leute keine eigene Wertschöpfung aufbauen." Rund ein Viertel der Kreditnehmer, so schätzt die DEG, schafft mit dem Geld Arbeitsplätze für sich und andere.

Ohne Hilfe aus dem Ausland wäre diese Art Entwicklung für viele unmöglich. Lula hat seine eigene Reformagenda aufgemacht, und manche deutsche Diskussion wirkt dagegen kleinlich. Null Hunger, neues Selbstbewusstsein für die Ärmsten, ein stabiles Wirtschaftswachstum und eine Rentenreform, die an den Pfründen der Staatsdiener ansetzt - Lulas Manöver sind riskant. Schon gehen die Landlosen in Brasilia auf die Straße, weil ihnen die Landreform nicht schnell genug geht, wehrt sich das Gewerkschaftsbündnis Cut lautstark gegen Einschnitte.

Umso klarer wird den Europäern, dass sie gerade jetzt handeln müssen. "Wir sind gekommen, um das Programm des Präsidenten mit zu unterstützen", wird die deutsche Ministerin nicht müde zu betonen. Es geht nicht nur um die Brasilianer: Lulas Aufbruch könnte der ganzen Region Stabilität verleihen und, natürlich, auch den Handel zwischen Europa und Südamerikas Handelsbündnis Mercosur beflügeln.

Was aber, wenn die Wirtschaft nicht mitspielt? Wenn die Exporte nicht florieren? Der Schuldenberg mit seinen immensen Zinslasten den Haushalt erdrückt? Der mühsam erholte Real wieder abstürzt? Gewerkschaften oder Staatsdiener die anstehende Umverteilung nicht mitmachen? Irgendwie, so denken die Brasilianer, wird schon alles klappen: Das Schicksal will es so. "Gott ist Brasilianer", sagen die Leute. Lula auch.

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