Tradition des 1. Mai:Revolutionär, der an den Galgen kam

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Der Arbeiterführer August Spies war ein deutscher Wirtschaftsflüchtling in den USA. Später wurde er dort zum Tode verurteilt. (Foto: oh)
  • Weltweit demonstrieren Arbeiter und Beschäftigte am 1. Mai.
  • Diese Tradition geht auf eine Arbeiter-Kundgebung in Chicago 1886 zurück.
  • Während der Veranstaltung platzte eine Bombe, dafür wurde unter anderem August Spies, ein deutscher Wirtschaftsflüchtling und Arbeiter verantwortlich gemacht - und erhängt.

Von Alexander Hagelüken

August Spies ist verstört in diesen Tagen im Frühling 1886. Arbeiter einer Landmaschinenfabrik in Chicago haben einen Streik angezettelt, jetzt rückt die Polizei an. Es ist typisch für jene Zeit des brutalen Kapitalismus, dass Unternehmer sogar auf Soldaten zurückgreifen können, um ihre ausgebeuteten Beschäftigten zu schikanieren. Diesmal erschießt die Polizei vier Streikende. Spies, Chefredakteur einer deutschsprachigen Arbeiter-Zeitung in der amerikanischen Großstadt, ruft zum Protest auf. Die Kundgebung auf dem Haymarket Square endet mit dem ersten Bombenattentat in Amerikas Geschichte - und führt dazu, dass Beschäftigte in aller Welt heute am 1. Mai demonstrieren.

August Spies stammte nicht aus Amerika, er war ein Wirtschaftsflüchtling. Geboren im Nordhessischen als Sohn eines Försters, macht er sich schon mit 16 Jahren 1871 in die Vereinigten Staaten auf. Er flieht vor Hunger und Ausweglosigkeit, so wie sieben Millionen andere Deutsche, die von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts in die USA emigrieren. Im gelobten Land lernt Spies bei einem Möbelpolsterer, eröffnet in einem der Deutschenviertel Chicagos ein kleines Geschäft, holt Mutter und Geschwister nach. Eine Geschichte von Aufstieg und Erfolg. Doch der Selfmademan beginnt, kritisch darauf zu blicken, wie sich der Kapitalismus in seiner boomenden Neu-Heimat entwickelt.

Polizisten erschießen vier Streikende

Arbeiter schuften zwölf bis 14 Stunden am Tag für wenig Geld. Wer aufbegehrt, wird rausgeworfen und durch einen der Allzeit Willigen aus dem Heer hungriger Wanderarbeiter ersetzt. Die Ideen von Karl Marx und Co. flirren durch die Luft. Spies' Begabung als Agitator besteht darin, die Theorien so zu übersetzen, dass sich die Arbeiter in Chicago darin wiederfinden.

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:Tag der Arbeit: Welche Bedeutung hat der 1. Mai heute?

Im Jahr 1886 in Chicago fing alles an: Arbeiter forderten mit Streiks und Kundgebungen den Acht-Stunden-Tag und mehr Lohn. Damals schufteten viele zwölf bis 14 Stunden am Tag für wenig Geld. Aus Tradition gehen bis heute am 1. Mai Menschen auf die Straße. Doch was ist aus dem Feiertag Ihrer Meinung nach geworden?

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1886 bricht Amerikas bis dahin schwerste Wirtschaftskrise aus. Die Geldhäuser haben sich verzockt, der Staat rettet sie und kürzt dafür Sozialausgaben. In Chicago, dessen Bevölkerung sich binnen einer Dekade verdoppelt hat, verschlechtert sich das Leben drastisch.

Arbeiterführer rufen zu einer landesweiten Demonstration am 1. Mai auf, die endlich den Acht-Stunden-Tag und mehr Lohn bringen soll. Zeitungen hetzen gegen die Arbeiter, man solle ein Exempel statuieren: "Die beste Mahlzeit für einen lumpigen Tramp ist Blei." Der Aufmarsch Hunderttausender bleibt friedlich, doch Tage später erschießen die Polizisten die vier Streikenden in der Landmaschinenfabrik.

Die Kundgebung, die August Spies als Protest gegen die Polizeiwillkür initiiert, verläuft erst unspektakulär. Der Bürgermeister der Stadt beobachtet die Szene. Er geht frühzeitig, weil er sie für unbedeutend hält. Dann zerstreuen Polizisten den Protest. Und da platzt eine Rohrbombe. Uniformierte und Zivilisten verbluten auf dem Asphalt, die Polizei ballert in die Menge.

Jahre später wird das Urteil gegen Spies aufgehoben. Da ist er schon tot.

Wer die Bombe gezündet hat, ist unklar. Es wird auch niemals aufgeklärt. Die Polizei verhaftet einfach Spies und mehrere Kameraden, von denen manche gar nicht auf der Kundgebung waren. Im Prozess sind Zeugen bezahlt, falsche Angaben zu machen. Es urteilt eine Jury, die anders als gesetzlich festgelegt nicht per Los ausgewählt ist; die Juroren verurteilen sieben Aktivisten zum Tod. Spies wird am 11. November 1887 gehängt. Vom Galgen soll er den Gaffern zugerufen haben: "Die Zeit wird kommen, wo unser Schweigen stärker ist als die Stimmen, die ihr heute erdrosselt."

Die Zeit kam. Zum Gedenken an die Vorfälle am Haymarket Square ruft die "Zweite Internationale" den 1. Mai zum Protest- und Feiertag aus. 1890, vor 125 Jahren, finden die ersten Kundgebungen statt, weltweit erstreiten Arbeiter in der Folgezeit mehr Lohn und mehr Rechte. In Deutschland sperren sich die Politiker lange, den 1. Mai zum Feiertag zu erklären. Das geschieht erst unter den Nazis. Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzen die Gewerkschaften den Tag immer wieder, um Kampagnen zu verstärken: Etwa 1956 den Kampf für freie Tage ("Samstags gehört Vati mir"). Damals waren die Jobs im Wirtschaftswunderland sicher. Heute erinnern die Demos am 1. Mai die Arbeitnehmer daran, dass die Jobs nicht mehr so sicher sind.

Der Gouverneur von Illinois hebt 1893 die Urteile gegen August Spies und seine Mitstreiter auf. Der deutsche Arbeiterführer liegt da schon sechs Jahre auf dem Waldheimfriedhof von Chicago.

© SZ vom 30.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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