Viel mehr als das bisschen Papier:Vom Glück des Stöberns

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Man trifft hier immer auf alte Freunde und flirtet schnell mit neuen Bekanntschaften: In der Buchhandlung ist alles möglich. Eine Liebeserklärung an diesen gefährdeten Ort.

Von Christian Mayer

Zu den Tätigkeiten, die im digitalen Zeitalter ein wenig in Vergessenheit geraten sind, zählt das Flanieren, eine Form der Fortbewegung, für die man den Mut zur Langsamkeit braucht. Der Flaneur streift ohne Zeitdruck durch die Straßen, bereit für die kleinen Abenteuer, die am Wegesrand warten. Wer sich auf diese Weise selbst verlieren kann, gewinnt vielleicht neue Einsichten oder Aussichten, zum Glück aber ohne Garantie.

Ein bevorzugter Ort für Flaneure ist die Buchhandlung. Natürlich kann man hier auch sehr planvoll und rational agieren - so wie im Supermarkt, wo man genau weiß, in welchem Kühlregal die Butter, der Parmesan und das Himbeereis liegen. Aber das Schöne an der Buchhandlung ist ja nicht das möglichst schnelle Abarbeiten einer Einkaufsliste. Es ist die Möglichkeit, sich treiben zu lassen, in welches Department des menschlichen Geistes auch immer.

Eine gute Buchhandlung bietet immer beides: Orientierung und Überraschung für lesende Menschen. Man findet hier gute, alte Freunde und unverhoffte Bekanntschaften. Man flirtet mit neuen Romanautoren und stößt, zwischen Philosophie, Reise und Religion, auf herrlich Abseitiges oder vielleicht auch auf 2000 Jahre alte Erkenntnisse. Manche Bücher sind schön, traurig, klug oder alles zusammen, und nirgendwo kann man die Schönheit, Traurigkeit oder Klugheit so komprimiert erleben wie in der Buchhandlung; sie muss dafür nicht einmal besonders groß sein, es reicht manchmal auch etwas bibliophile Inszenierungskunst. Den verführerischen Glanz, der von diesen Orten ausgeht, hat der Autor Torsten Woywod nun in Reportageform festgehalten: "In 80 Buchhandlungen um die Welt" heißt dieser unterhaltsame Reisebericht, er zeigt, welchen hohen Stellenwert das alte Buch in Ländern wie China, Südkorea oder Japan immer noch hat (erschienen bei Eden Books).

Montaigne wusste: Bücher spenden auch Trost

Eine gute Buchhandlung lässt Flaneure gewähren, sie sollen ja stöbern und herumstreifen. Wenn sie etwa den Bildband des brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado aus dem Regal ziehen, stoßen sie mit etwas Glück auf die benachbarten Werke von Erich Salomon und August Sander, zwei ebenfalls bedeutende Fotografen aus einer ganz anderen Zeit. Diese Unmittelbarkeit, das haptische und spontane Erleben des Bücherfindens, gibt es so nur in der Buchhandlung - der Internethandel hat zwar vieles auf Lager, aber eben nicht zur Hand.

Einer der größten Bücherfreaks war der Philosoph Michel de Montaigne, der sich in seinem Schloss in Südwestfrankreich einen Bibliotheksturm einrichten ließ. Er hatte zwar Familie und Angestellte - doch im Zweifel waren ihm seine geistigen Gefährten lieber. Montaigne lebte mit seinen Büchern, die ihm Trost spendeten, aber im 16. Jahrhundert war die Auswahl beschränkt, gute Bücher waren schwer zu beschaffen, man konnte auch nicht wie heute zwischen zehntausend Neuerscheinungen im Monat wählen.

Auch deshalb gibt es die Buchhandlung: Weil dort Menschen arbeiten, die wissen, welche der vielen neuen Titel etwas taugen. Und weil dort Büchertische stehen mit Werken, die man gelesen haben sollte. Die schönsten und klügsten Bücher erhalten eine besondere Auszeichnung: eine handgeschriebene Notiz der Buchhändlerin oder des Buchhändlers - als Kaufanreiz für Menschen, die sich überraschen lassen wollen. Ist diese Art der analogen Anpreisung nicht aus der Zeit gefallen? Oh ja. Gerade deshalb ist sie so wundervoll.

© SZ vom 09.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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