Streetstyle 1990:Hässlich, wir waren so hässlich

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Nie sahen junge Deutsche so schauderhaft aus wie in den Neunzigerjahren. Illustration: Katharina Bitzl (Foto: N/A)

Nie war der Westen so sehr von sich überzeugt wie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Leider hat man das auch der Mode angesehen.

Von Marc Felix Serrao

Es war nicht alles schlecht. . . solche Sätze nehmen im Deutschen selten ein gutes Ende. Das gilt auch für den Westteil des Landes zur Wendezeit.

Wer 1990 zwischen Ostfriesland und Oberbayern auf eine weiterführende Schule ging und heute durch seine analogen Fotoalben blättert, freut sich, dass Google erst Ende des Jahrzehnts erfunden wurde. Das liegt nicht daran, dass es Jugendbilder sind. Kein Erwachsener erinnert sich wirklich gerne an sein Teenager-Ich, dieses zwischen Präpotenz und Unsicherheit taumelnde Wesen. Nein, die Westdeutschen, die bei der Wiedervereinigung Jugendliche waren oder gerade wurden, sahen so dämlich aus wie keine andere Generation vor oder nach ihnen. Politisch mag das Jahr 1990 ein Segen gewesen sein. Stilistisch war die Westbindung ein Desaster. Auch für die Ossis, die es nicht abwarten konnten, ihren angeblich so unterlegenen DDR-Kleiderschrank auszumisten.

Und die Achtziger? Keine Frage, eine schwierige Zeit. Schulterpolster und Puffärmel ließen Frauen aussehen wie Bodybuilder. Die Männer machten derweil mit bunten Sakkos und langem Nackenhaar auf "Miami Vice". Aber all das war nichts gegen die Freakshow, die folgte.

Riesenhosen, falschherum angezogen

Vanilla Ice, zum Beispiel. Pünktlich zur Deutschen Einheit schoss sein Album "To The Extreme" in die Charts. Der Titel passte nicht nur zu dem so gewaltigen wie kurzlebigen Ruhm des Amerikaners; mit 15 Millionen verkauften Alben war Robert Matthew Van Winkle der erste kommerziell erfolgreiche weiße Rapper. "Ice", wie wir kaukasischen Ghettoversteher der gymnasialen Unterstufe unseren Helden nannten, trug eine viel zu große Lederjacke in den amerikanischen Nationalfarben, und seine Beine steckten in flatternden Jogginghosen. Er rasierte sich Streifen in die Augenbrauen und benutzte so viel Haarspray, dass seine blondierte Tolle beim Tanzen völlig reglos blieb. "Ich töte dein Gehirn wie ein Giftpilz", rappte Ice und formulierte damit so etwas wie das ästhetische Motto des Jahrzehnts.

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Auf dem Schulhof einer schwer abendländischen Schule in Hannover eiferten fast alle diesem Vorbild nach. Selbst die Schüler, die Hip-Hop blöd fanden, trugen plötzlich Hosen und Sweatshirts, die so groß waren, dass ihre Träger aussahen wie sprechende Zelte. Und das war nur der Anfang. Etwas später zogen wir Jungen unsere Riesenhosen auch noch falsch herum an, mit den Gesäßtaschen vorne. Wer deshalb Ärger von den Eltern bekam, ging normal aus dem Haus und zog sich auf dem Schulklo um. Der Auslöser hieß Kriss Kross, ein Hip-Hop-Duo, das aus zwei 13-Jährigen bestand, die noch nicht im Stimmbruch waren. Natürlich gab es Ausnahmen. Ein paar Grufties hielten der Infantilisierung mit engen schwarzen Jeans, The-Cure-T-Shirts und Eyeliner stand. Später kam Grunge dazu, aber das war stilistisch eher eine Nichtbewegung aus Flanellhemden und fettigen Haaren. Die meisten Westkinder zogen sich an wie die Stars aus der Bravo, und die sahen in ihren XXL-Klamotten aus wie Zwerge mit zu viel Taschengeld.

Für verspätete Popper, die sich nur deshalb für stilvoll hielten, weil sie nicht ganz so bizarr aussahen wie die Mehrheit, gab es "Beverly Hills 90210". Die Serie war eine Art Gebrauchsanweisung für den einfallslosen Schnösel-Look: sehr teuer, sehr klobig. Die Jungs zogen unter ihren Westen Seidenhemden an, die aus der Hose hingen. Die Mädchen kombinierten Miniröckchen mit Sakkos und sahen damit aus wie eine unentschlossene Mischung aus Sekretärin und Escort Girl. Alle benutzten zu viel Haarspray.

Die Popkultur war nicht allein mit ihrer groben Fröhlichkeit. "The End of History" hieß ein Buch des amerikanischen Politologen Francis Fukuyama, dessen Kernthese rückblickend atemberaubend naiv wirkt, auf westliche Intellektuelle damals aber Eindruck machte: Nicht nur der Kalte Krieg, nein, die Menschheitsgeschichte als solche sei vorbei, erklärte er. Das liberal-demokratische System habe gesiegt, alle angeblichen Alternativen seien widerlegt. Ende, aus, Party.

Auch wenn wenige Pop-, Fernseh- und Modeleute Fukuyama gelesen haben werden, atmete ihre Arbeit doch den gleichen vergnügten und durch keinerlei Selbstzweifel belasteten Geist.

Die Deutschen bereicherten die Neunziger derweil noch um eine Prise teutonischen Irrsinns. Sahen die Rapper und Popper aus wie ein verunglückter Grundschulausflug, erinnerte die hiesige Dancefloor- und Technoszene an eine Krabbelgruppe. Zu Hause lag das Tamagotchi neben der Lavalampe, und beim Feiern trug man zum Bauchnabelpiercing weiße Handschuhe, Bauarbeiterwesten, bettlakengroße Latzhosen, Metallketten als Schlüsselanhänger, neonfarbene Kontaktlinsen, Netzhemden auf nackter Haut, Plateauschuhe (die Guten von Buffalo), Trillerpfeifen und Schnuller an Halsbändern.

Schnuller.

Doch so wie das Triumphgefühl des Westens durch Kriege und Krisen aufgezehrt wurde, so hat sich auch sein Erscheinungsbild gewandelt. Die politische Realität wurde hässlicher, der Stil feiner, ernster. Schaut man sich im Herbst 2015 jugendliche Deutsche an, hat man den Eindruck, dass ein paar von ihnen tatsächlich eines Tages zurechnungsfähige Erwachsene werden könnten. Das war in den Neunzigern anders. Heute, ein Vierteljahrhundert später, ist die Großwetterlage ernst. Der Westen, dieser einzigartige Versuch, ein Kollektiv zu bilden, das den Kollektivismus überwindet, tanzt nicht mehr, er wankt. Aber wenigstens hat er dabei keinen Schnuller im Mund.

© SZ vom 02.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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