Silvester:Dreh den Simulator lauter, Schatz!

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Immer mehr Städte verbieten Böller an Silvester, um Feinstaub zu vermeiden und Tiere zu schonen. Aber was genau macht man, wenn es keinen Grund mehr gibt, um Mitternacht nach draußen zu gehen?

Von Claudia Fromme

Das Gute an wiederkehrenden Festen ist ja, dass die Abläufe klar sind. So werden auch in diesem Jahr Menschen um kurz vor Mitternacht an Silvester ihre Jacken nicht finden, mindestens einer wird "Hast du den Sekt?" rufen, und der Letzte greift im Rausrennen die Tasche mit dem Böllerzeugs. Dann ist Stille. Drinnen zumindest. Fast überall in Deutschland wird es auch in diesem Jahr wieder so sein, in manchen Städten und Dörfern aber nicht. Da sind Raketen und Böller teils oder ganz verboten, um Feinstaub zu vermeiden, Tiere in Haus und Wald zu schonen - und den Menschen. Das Bewerfen anderer mit Knallkörpern hat dazu geführt, dass zum Beispiel die Münchner CSU-Stadträtin Sabine Bär mit Blick auf alte Jahreswechsel von "kriegsähnlichen Zuständen" spricht.

Was macht man nun in den Bannmeilen von München, Nürnberg, Hannover oder Berlin an Silvester? Und was wird sein, wenn es in Zukunft womöglich nirgendwo mehr einen Grund gibt, kurz vor Mitternacht nach draußen zu eilen, weil Böllern überall verboten ist?

Im Prinzip ist es eine gute Sache, wenn die Menschen, die seit Stunden in überhitzten Räumen halb erloschen auf den Moment warten, sich kurz abkühlen, um dann Teil zwei der Feier mit Anstand begehen zu können. Andere sind schon immer drinnen geblieben und haben ein Hochamt der Stille gefeiert, mit Gleichgesinnten, die der Böllerei auch nie etwas abgewinnen konnten oder Kleinkinder bewachen mussten, die den Jahreswechsel auf einem Jackenberg im Flur verschliefen.

Ohne Rituale kommt die Silvesternacht nicht aus, sonst wäre sie wie jede andere Nacht

In Zeiten ohne Böller droht nun womöglich der Horror Vacui, die Angst vor der Leere. Es entsteht ein Vakuum dort, wo von Kindesbeinen an alles geregelt zu sein schien. Ein Film dieses Namens von Rosa von Praunheim (1984) illustriert eine derartige Sinnleere. Plot und Personal sind gewohnt bizarr, im Wesentlichen geht es um eine Sekte, die den optimalen Optimismus predigt, aber eigentlich Böses im Schilde führt. Am Ende gibt es einen Knalleffekt, alle bleiben ratlos zurück. Die alte Ordnung ist so etwas von futsch. Dann doch lieber böllern? Immerhin war die Idee davon, mit der Knallerei böse Geister zu vertreiben, damit man dem neuen Jahr mit optimalem Optimismus begegnen kann.

Menschen haben zu allen Zeiten ihren Alltag mit Ritualen strukturiert. Diese unterbrechen den Fluss des Ewiggleichen und sind zugleich Konstanten im zunehmend beschleunigten Leben. Gäbe es keine Routinen und Rituale, müsste jede Situation neu gedacht werden, Überforderung droht. Wer weiß, wo er oder sie Silvester feiert, muss sich keine Gedanken darüber machen, wie der dramaturgische Ablauf des Abends sein wird. Die Spielregeln der Inszenierung stehen fest, überliefert von unseren Eltern und Großeltern, was zeigt: Silvester ist ein kollektives Fest. Wer alleine oder gar nicht feiert, muss sich auch in unserer individualisierten Gesellschaft noch rechtfertigen.

Ohne Rituale kommt die Silvesternacht nicht aus, sonst wäre sie eine Nacht wie jede andere. In einer Zukunft ohne Böller muss ein neuer Masterplan her. Man könnte es wie viele Spanier machen, die bei jedem Glockenschlag um Mitternacht eine Traube verzehren. Verzählen sollte man sich nicht, das bringt angeblich Unglück. Auf den Philippinen springen Kinder um zwölf so hoch, wie sie können, was im neuen Jahr Wachstum bescheren soll. In Bulgarien, so heißt es, bescheren einem feste Schläge auf den Rücken ein reiches und gesundes Jahr, was womöglich doch kein gutes Vorbild ist. Dann kann man andere Feiernde auch gleich mit Böllern bewerfen - oder mit ihnen Bleigießen. Den Verkauf von Bleigießsets hat die EU 2018 nämlich wegen des schädlichen Schwermetalls darin verboten. Manche nehmen Zinn oder Wachs; letzteres Gießmaterial ist aber sehr öde. Da sieht jedes Ergebnis aus wie ein Kuhfladen. In den üblichen Bedeutungslisten taucht der Fladen nicht auf, wohl aber seine Urheberin, die Kuh. Die steht für: "Nicht so faul sein." Schönen Dank auch.

Früher war mehr Lametta, auch an Silvester. Aber vielleicht birgt der reglementierte Abbau von Ritualen auch Chancen. Vielleicht wird die Stimmung gelassener, wenn keiner mehr nach draußen rennen muss, um pünktlich eine Rakete in eine leere Flasche zu stecken, die in neun von zehn Fällen umfällt. Vielleicht feiern manche auch gelöster, wenn sie nicht Unsummen für Raketen ausgegeben haben und der Hund danach keine Therapie braucht. Obwohl, Geld für Kawumm lässt sich an Silvester auch ohne Böller ausgeben. Der Fachversand Pyroland zum Beispiel hat in diesem Jahr sogenannte Crashflaschen ("Nicht für Kinder geeignet") im Angebot. Diese Requisite kennt man aus schlechten Western, wenn es zur Schlägerei im Saloon kommt. Hat was, wenn um Mitternacht der Gastgeber nicht mit einem jovialen "Dann wollen wir mal" das Tischfeuerwerk mit einem Kaminstreichholz anzündet, sondern seinen verdutzten Gästen eins mit der Flasche überbrät. Wem das zu krass ist und wer zugleich aber nicht böllern darf, kann trotzdem ein monumentales Feuerwerk anrichten - am Computer. Der Spezialist Weco bietet die Software "Großfeuerwerk-Simulator" an, mit der ambitionierte Gastgeber ein musiksynchrones Spektakel erstellen und aus sechs Kameraperspektiven aufnehmen kann, um es dann um Mitternacht mit dem Beamer an die Wand zu feuern.

Vielleicht muss man auch nicht krampfhaft versuchen, das kollektive Draußensein zu ersetzen. Man könnte einfach um Mitternacht das Fenster öffnen, um die Kirchenglocken zu hören, die das neue Jahr einläuten, in der Vergangenheit aber meist von Böllern übertönt wurden. Silvester ist zwar kein kirchlicher Feiertag, aber der letzte Tag des Jahres heißt so, weil die römisch-katholische Kirche da Papst Silvester I. gedenkt. Der ist übrigens Schutzpatron der Haustiere.

© SZ vom 28.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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