Samstagsküche:Genussgipfel

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Warum Topköche aus dem Alpenraum gerade versuchen, gemeinsam eine neue Form der Gourmetküche zu erfinden.

Von Severin Corti

Wenn der Schweizer Dominik Flammer von der Alpenküche spricht, von den seltsamen Missverständnissen über sie, dann beginnt er gern beim Käse seiner Heimat. Der gelte nämlich als leuchtendes Beispiel eidgenössischer Tradition, sei aber in Wahrheit ein Produkt länderübergreifender Zusammenarbeit, sagt der Autor, Foodscout und Filmemacher ("Das kulinarische Erbe der Alpen"). Pointierter: Der Reichtum der Schweizer Käsewelt hat seinen Ursprung in Italien. Flammer liebt die Geschichte, nie verfehlt sie ihre Wirkung. Vor allem nicht, wenn man sie in der Schweiz vorträgt.

Für die Begründung holt er gern etwas aus: "Über Jahrhunderte trieben Bergamasker Hirten ihre Schafe und Ziegen im Sommer aus der Po-Ebene auf die Almen der Schweiz." In den Bergen produzierten sie Käse nach uralten Rezepturen und nahmen sie im Herbst mit in die Täler. Die raue Natur des Hochgebirges habe die Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg nötig gemacht, "um Überleben zu sichern und Wissen zu teilen", fährt Flammer fort. Wieso er das erzählt? Wer in Grenzen denke, meint er, beschränke sich nur unnötig: Mit Gründung der Schweizer Käseunion im Jahr 1914 war die köstliche Sortenvielfalt nämlich radikal zurückgestutzt worden, existierte fortan nur noch als "kümmerlicher Wurmfortsatz" einstiger Vielfalt. "Bis 1905 produzierte die Schweiz allein 30 verschiedene Blaukäse aus Rohmilch", so beschließt der Foodscout seinen Käseexkurs. "Von denen gibt es keinen einzigen mehr."

Die Alpenküche ist ein einziges Klischee - von Knödelseligkeit bis zum Schampus im Chalet

Dominik Flammer gehört zu den besten Kennern der Alpenkulinarik; für ein neues Produkt oder einen besonderen Wochenmarkt nimmt er kleine Reisen in Kauf, wenige können dann so eindringlich von solchen Entdeckungen erzählen wie er. Doch hier, im Graubündner Drei-Sterne-Restaurant Schloss Schauenstein, muss er keinen mehr von der Bedeutung seines Käsegleichnisses überzeugen. Es ist Frühlingsbeginn, und Flammer spricht zum Auftakt eines "Alpengipfels", zu dem er Spitzenköche aus Österreich, Südtirol und der Schweiz geladen hat. Gut ein Dutzend Großküchenmeister sind hier versammelt, von Gastgeber Andreas Caminada über Norbert Niederkofler aus Alta Badia, Rebecca Clopath aus dem nahen Lohn und Heinz Reitbauer aus Wien bis zu Jeremias Riezler aus dem Kleinwalsertal. Ihr ehrgeiziges Ziel: Unter Flammers Ägide endlich die Idee einer gemeinsamen Hochküche der Alpen zu entwickeln. Ihre gemeinsame Sorge: dass die Region von der globalen Gutesser-Szene zu sehr missachtet wird. Der internationale Wettbewerb ist hart. Ein gutes Konzept oder zumindest ein griffiger Titel wären da sehr willkommen, um die Alpen wieder als Ziel für Gourmets attraktiv zu machen.

Das Einfache ist das Gute: Im Aosta-Tal reift der Ziegenkäse im 400 Jahre alten Keller zur Delikatesse heran. (Foto: Sylvan Müller)

Die Initiative hat natürlich ein Vorbild: Bald 15 Jahre ist es her, dass den dänischen Köchen René Redzepi und Claus Meyer ein Zaubergriff gelang, der die globale Idee vom guten Essen radikal verändern sollte: Ausgerechnet in der kulinarischen Einöde Kopenhagens stellten sie damals das "Noma" auf die Beine, ein Lokal, in dem sie auf lange vergessene, nordische Küchentraditionen und, vor allem, auf exklusiv skandinavische Grundprodukte setzten, um ihre ureigene, neue Form der Hochküche zu verwirklichen. Der Rest ist Geschichte: Das Noma wurde vier Mal zum besten Restaurant der Welt gekürt, Kopenhagen ist heute Gourmetmetropole, seine Gastroszene eine der interessantesten Europas und in jedem Land, das kulinarisch ähnlich erfolgreich sein will, setzen die Spitzenköche nun auf Storytelling und Zusammenarbeit.

Keine Frage, Mitteleuropa hat eine große kulinarische Tradition, doch eine Königsidee für deren Vermarktung findet sich nicht mal eben so. Um international Aufmerksamkeit zu erregen, wird es mehr brauchen, als an Traditionen anzuknüpfen oder einfach auf den Regionalismus-Zug aufzuspringen, der ohnehin seit Jahren durch jedes Kuhdorf bimmelt. Das ist den bergaffinen Edelköchen auch bewusst: Die skandinavischen Köche haben - wie vor ihnen die Spanier und nach ihnen die Südamerikaner - "verstanden, dass sie in der Einheit stärker sind denn als Einzelkämpfer", sagt Heinz Reitbauer vom "Steirereck" in Wien. Mit der Initiative "Kochcampus" animiert der höchstdekorierte Koch Österreichs seine Kollegen seit Jahren dazu, gemeinsam an einem Strang zu ziehen. "Die Skandinavier haben gezeigt, wie sich eine Region über die Grenzen hinweg kulinarisch neu erfinden kann, wenn sie Traditionen in innovativer Weise aufgreift, aber auch infrage stellt. Und, vor allem, indem sie das Gemeinsame über das Trennende stellt. Da können wir einiges lernen."

(Foto: N/A)

Doch was genau bringt so eine Zusammenkunft der Spitzenköche für die Idee einer neuen Alpenküche?

Zunächst einmal sammelt, wer auf diesem Niveau gemeinsam kocht und diskutiert, auch Erkenntnisse. Die wichtigste auf Schloss Schauenstein: Die Qualität liegt wie so oft in der Einfachheit. Es wird deutlich, wie viele der hier anwesenden Köche sich neuerdings für fast vergessene Gerichte der bäuerlichen Tradition interessieren. Gastgeber und Drei-Sterne-Koch Andreas Caminada lässt eine Variation von Pizzocherie (oder Pizokel) mit Wirsing, Speck, gereiftem Käse servieren. Die derben Buchweizenspätzle galten einst als Verpflegung für Graubündner Holzknechte. Caminada verwandelt sie in eine schwebend leichte Kreation: die Nüdelchen hauchzart und doch kräftig im Biss, auf aromatisch schillernde, grüne Wirsingemulsion gebettet, der drastische Rauchton des Specks ins Ätherische sublimiert. So werden bescheidene, in der Region verwurzelte Zutaten in die Grande Cuisine entführt. "Unser Gast kennt den Luxus dieser Welt doch längst in allen Facetten", erklärt Caminada. "Großer Meeresfisch, zartes Filet, Langusten, Kaviar und Champagner - das hat er bis zum Abwinken genossen, damit kann ich ihn nicht in unser enges Tal locken. Was so einen Gast viel mehr interessiert: die Kultur der Region, die er besucht, auf dem Teller wiederzufinden. Über den Gaumen erzählt zu bekommen, wo er ist: Das ist die Kunst, die wir perfektionieren müssen."

Aber kann die Tradition einer kargen Alpenküche Anziehungskraft entwickeln, die verwöhnte Gourmets von weit her anreisen lässt? Sind Sterz und Tirteln, Knödel und Krapfen oder Spätzle und Muas tatsächlich so einzigartig, dass sich die Hochküche an ihnen nachhaltig befruchten kann?

Jeremias Riezler ist ein Koch, der das glaubt. In seiner "Walserstuba" spürt er der Aktualität uralter Rezepte des Kleinwalsertals seit Jahren nach: "Das Arme-Leute-Essen von einst ist doch längst im Begriff, sich zum Luxusprodukt von morgen zu mausern", sagt der bullige Mann mit dem verschmitzten Grinsen. Als Beispiel führt Riezler eine der traditionellsten Zutaten für die Nachspeisen seiner verfeinerten Walser Küche an: Schotta-Gsiig, eine Art Karamell, das als köstlich süßer, aber auch zart salziger und animierend säuerlicher Bodensatz übrig bleibt, wenn die Molke der Bergkäseproduktion unter stundenlangem Kochen und Rühren verdampft. Früher, als Arbeitskraft spottbillig, Zuckersüße in jeder Form aber der reine Luxus war, sei es "komplett logisch" gewesen, sich diese zeitaufwendige und mühsame Prozedur anzutun. "Heute ist es genau umgekehrt", sagt Riezler - "die Arbeitskraft ist luxuriös teuer, Zucker ein kriminell billiges Industrieprodukt", weshalb Molke längst an Schweine verfüttert werde und Schotta-Gsiig plötzlich der Nimbus des Außergewöhnlichen, Raren, Speziellen anhafte.

Geschmorte Ziegenkeule mit Berberitzen, Fenchelsaat und seltenen Käferbohnen. (Foto: Sylvan Müller)

Essen aus bergbäuerlicher Tradition, im Produkteinsatz bescheiden, dafür aber extrem arbeitsintensiv; quasi als Rückkopplung für eine an Ressourcen immer knapperen Welt, die immer digitaler, also auch abstrakter wird - liegt hier die Zukunft der feinen Alpenküche? Riezlers Kollegen scheinen da ähnliche Ideen zu verfolgen.

Das ist Käse! Es klingt ironisch, aber Gourmets feiern jetzt die Kargheit der Bergbauernkost

So serviert etwa Heinz Reitbauer Heidensterz mit Esskastanien, in Kalbsnierenfett abgeschmalzenen Zwiebeln und Sauerrahm, dem mittels in Wipferlsirup marinierter Quitte ein berückend fruchtiges Element untergeschoben wird - ein belebendes Gericht, von dem eine zarte Kraft ausgeht und das nur bescheiden wirkt. Ähnlich und doch sehr anders auch der Caminada-Schüler Sven Wassmer: Sein Dessert aus seidiger, dichter Creme von Bergkartoffeln mit Preiselbeeren, Joghurt und einem wunderlich knusprigen, explosiv fruchtigen Crumble aus Trockenbirnen, karamellisierter Valser Sahne und Kartoffelschalen zeigt große Küche, die tief in Graubünden verankert ist und doch den Blick über den Tellerrand wagt.

Lang sind die Schatten der Nachkriegszeit, in der das Essen - und erst recht die feine Küche - nur dann als wirklich gut gelten konnten, wenn ordentlich Edelprodukte auf dem Teller waren. Hier, auf dem Gipfel der Spitzenköche, würde man diese Schatten lieber gestern als heute endgültig hinter sich lassen. Ebenso wie alle lästigen Klischees von der alpinen Knödelseligkeit oder von Champagner-Partys in den Nobel-Chalets. Und gerade in den Alpen haben sich die Luxuszutaten besonders lange gehalten, was seine Gründe auch im Tourismus hat, aber nicht zuletzt auch den jahrhundertelangen Entbehrungen geschuldet sein könnte. Es gab eben einigen Nachholbedarf. Die klassische alpine Küche scheute sich bekanntlich nie vor Arbeit und wusste aus einfachen Zutaten Außerordentliches zu schaffen. Da wirkt es fast ironisch, wenn diese Traditionen kurz vor ihrem Verschwinden nun ausgerechnet von der Luxusküche wiederentdeckt werden.

Ob solche Erkenntnisse am Ende für die Revolution der alpinen Hochküche ausreichen, muss man abwarten. Und ob sich ein sogenannter Megatrend einfach erfinden, ein nun auch schon lange zurückliegender Erfolg wie der der Nordischen Küche wiederholen lässt, sind ganz andere Fragen. Ein Anfang aber ist gemacht, finden die Spitzenköche am Ende des Gipfels auf Schloss Schauenstein. Man will sich in Zukunft regelmäßig treffen, in losem Kreis, will auch Spitzenköche aus Frankreich und Deutschland einbinden. Der nächste Alpengipfel findet im September in Südtirol statt, wo die Traditionen der Volksküche seit je eifersüchtig gehegt werden. Und Reitbauers Kochcampus wird seine Zelte schon im Juni im Zillertal aufschlagen - in einer Hütte irgendwo jenseits der Baumgrenze, die nur zu Fuß erreichbar ist. Nun bleibt nur noch zu wünschen, dass sich das Ergebnis bald überall schmecken lässt.

© SZ vom 29.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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