Retro:Runde Sache

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Disconächte auf Rollschuhen? Klingt nach einem längst vergessenen Trend aus den Achtzigerjahren. Doch Roller-Skate-Jams sind wieder populär.

Von Jan Kedves

Der Reiz des Rollens, wie lässt er sich beschreiben? Es geht nicht um Tempo und nicht ums Gewinnen. Sondern um Eleganz in der Bewegung - was, wenn man auf Rollschuhen noch nicht so sicher ist und kurz davor, die Balance zu verlieren, schwierig wird. Denn dann muss man sich korrigieren, und das macht man in dem Moment, wo es sein muss, und nicht im Takt der Beats, die der DJ spielt. Das soll Tanzen sein? Andererseits: Oft genug stampft man im Club noch zur tollsten Funk- und Disco-Musik einfach nur vom linken Fuß auf den rechten und wieder zurück. Das geht hier nicht, man bewegt sich ja vorwärts und im Kreis herum. Das schafft Raum für Spiel, für Bewegungen, die man sonst auf dem Dancefloor, ohne Rollen drunter, wohl nie machen würde.

So zu beobachten kürzlich in Hamburg-St. Pauli beim "Roller Skate Jam". Um die 250 Begeisterte, von Anfang 20 bis Ende 50, rollen an diesem Samstagabend durch den Mojo Club, als wäre der nie für einen anderen Zweck gebaut worden - wobei: Die Bühnenkante vor dem DJ-Pult ist heute mit Schaumstoffrolle gepolstert, damit man sich bei einem Crash nicht verletzt. Manche tragen Rollschuhe im schlanken Schlittschuh-Look, andere klobige Ausleihmodelle. Die sehen aus wie normale Sneakers, nur eben mit Rollen drunter. Einige haben sich rote Rücklichter an ihre Schuhe gebastelt, andere haben spezielle Rollen, die im Moment des Bodenkontakts blinken. Die DJs spielen alte und neue Hits der schwarzen Musik ("Superstition" von Stevie Wonder, "Rockit" von Herbie Hancock).

Die Tradition kommt aus Brooklyn, wo die Partys Teil der schwarzen Kultur wurden

Roller-Skate-Jams sind wieder populär und nicht, wie man denken könnte, eine längst vergessene Sache aus den Siebziger- und Achtzigerjahren, aus der Ära von Hot-Pants, Schweißbändern, John Travolta und Jane Fonda. Wer es nicht glauben will, blicke einfach auf die Webseite roller.sk8.berlin, dort gibt es einen Kalender. Er verzeichnet neben den Jams im Mojo Club und den regelmäßigen Events in der Hauptstadt - im Kreuzberger SO36 und seit Kurzem auch im Neuköllner Schwuz - allein für den Monat Januar noch weitere Termine in London, Bristol, Bordeaux, Mainz, Zürich und einigen anderen europäischen Städten.

Man könnte also von einer Renaissance sprechen. Wobei: Ganz weg war die Roller-Disco-Kultur nie. Man bekam nur in der Zeit vor den sozialen Medien weniger mit davon. Die "Rollerdisco" im Berliner SO36 zum Beispiel - momentan findet sie jeden dritten Montag im Monat statt - gibt es schon seit zehn Jahren.

Als Geburtsort der Roller-Disco-Kultur gilt das Empire Rollerdrome im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Dort rollte man schon in den 40er-Jahren, anfangs zu wenig rhythmusbetonter Orgelbegleitung. Als sich das Viertel Crown Heights dann demografisch wandelte und immer mehr schwarze Menschen in die Gegend zogen, ging es los: Die neuen Gäste wollten R&B und Jazz hören, später Funk und Disco. Ein DJ hielt Einzug, die Soundanlage wurde fetter, und auf der Bahn wurden die Bewegungen immer raffinierter. Man schaute sich wohl beim weißen Sport, dem Eiskunstlauf, einige Figuren ab. Zu Beats rollen - bisweilen wird es auch "jam skating" genannt - wurde zum wichtigen Bestandteil der schwarzen Kultur Amerikas.

Nach Deutschland schwappte der Trend durch Soldaten der US Army. Die kannten die Jams aus ihrer Heimat und tanzten, wenn sie im Frankfurter Raum stationiert waren, im Rollerland Hanau. Oder die GIs der Berlin-Brigade: Sie strömten von 1985 an ins Roller Skate Center Neue Welt in Neukölln, vorher (und heute wieder) bekannt als Konzerthalle Huxleys.

Wer etwas vom Zauber des Rollertanzes verstehen will, kann sich den schönen Song "Roller Rink" der R&B-Sängerin Kelis von 1999 anhören, produziert von den famosen Neptunes. In ihm preist Kelis die quasi-therapeutischen Effekte des Rollens unter der Discokugel: Hier rollen wir alle unsere Sorgen weg, hier brauchen wir keine fetten Autos oder Nerzmäntel, und auch keine Gucci-Ketten, wir rollen einfach und sparen uns den Psychiater - so die Botschaft des Songs.

Das Ganze hat auch einen Detox-Effekt: Beim Rollen kann man nicht aufs Handy schauen

Rollschuhfahren als Therapie? Im Mojo Club erscheint das etwas hoch gegriffen. Andererseits: Ein paar Stunden hier sind so etwas wie eine Mini-Detox-Kur, ein Kurzurlaub vom Smartphone. Denn rollschuhtanzen und dabei aufs Handy schauen und es sich ständig vors Gesicht halten für Selfies - das ist koordinativ zu schwierig und wäre nicht nur für einen selbst gefährlich, sondern vor allem für die anderen, die man ja umfahren könnte. "Bitte nehmt Rücksicht aufeinander", lautet eine der Bahnregeln, die für den Abend ausgehängt sind, und tatsächlich bleibt das Handy bei den meisten Gästen in der Tasche. Eine andere Regel: "Don't drink and drive!", womit gemeint ist: keine Bierflaschen und Gläser auf der Tanzfläche. Wegen der Scherben- und Stolpergefahr. Irgendetwas muss die Bar ja aber verkaufen. Das heißt, trinken dürfen die Gäste schon. Aber bitte nicht zu viel. Richtig betrunken scheint niemand zu sein.

Die meisten rollen ganz locker im Kreis, in der Mitte bleibt eine Freifläche für die Könner. Da ist die Eisprinzessin, die sich ein weißes Tutu angezogen hat und ihre scharfen Pirouetten sonst wohl auf Schlittschuhen dreht. Da ist der Blinker, auf dessen T-Shirt eine echte LED-Balken-Anzeige blinkt, wie bei einer Stereoanlage. Er hat unter anderem den Moonwalk drauf: rückwärts nach vorne gehen wie Michael Jackson, nur eben auf Rollen. Außen herum zirkeln zwei Playboy-Bunnys. Sie tragen im Partnerinnenlook glitzernde Shirts und haben sich Hasenöhrchen aus Strass auf die Frisuren gesteckt. Die zwei halten beim Rollen Händchen, wie süß.

Manche fahren dann sogar zu acht oder zu zehnt als Schlange hintereinander, was erfordert, dass man sich beherzt an den Schultern oder den Hüften der jeweils vorfahrenden Person festhält. Da kommt man auch Fremden recht nahe, was hier aber niemanden zu stören scheint. Dann ruft der DJ: "Wir ändern die Fahrtrichtung! Bitte in die entgegengesetzte Richtung rollen!" Tatsächlich drehen sich alle um und fahren nun gegen den Uhrzeigersinn. Und tanzen zum großen Funk-Hit des vergangenen Jahres, "Juice" von Lizzo. In dem heißt es passend: "That's how I roll" - so rolle ich.

© SZ vom 04.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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