Nachruf:Der Mann von der Straße

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"Geld ist die billigste Sache überhaupt, Freiheit die teuerste", hat er einmal gesagt. Zum Tod des Streetstyle-Fotografen Bill Cunningham.

Von Tanja Rest

Einmal fasste man sich ein Herz und bat ihn um ein Interview. Das war am Abend des 1. Oktober 2012, oben im Grand Palais stand die erste Show von Hedi Slimane für Saint Laurent bevor, unten im Zwischengeschoss der Metro-Station Champs Elysées Clemenceau stöckelte das aufgestraffte Modevolk den Ausgängen entgegen. In einer schummerigen Nische saß Bill Cunningham und trank einen Coffee-to-go. Er trug seine Arbeitskleidung, die blaue Jacke der Pariser Müllarbeiter, Khakihose und schwarze Turnschuhe, und er sah einen nun ungeheuer betrübt an.

"Es tut mir schrecklich, schrecklich leid, Kind, aber ich spreche nicht mit Journalisten. Ich traue ihnen nicht." Moment mal, war er nicht seit mehr als 30 Jahren im Dienst der New York Times unterwegs? "Ja aber siehst du, ich mache Bilder, das ist etwas völlig anderes. Bilder kann man nicht manipulieren." Man setzte gerade zu dem Hinweis an, dass man Fotos heutzutage sehr wohl. . . - da kreuzte irgendein Outfit seinen Blick, er schnappte seine Olympus, sprang auf und war fort. Zurück blieb ein voller Pappbecher mit Filterkaffee.

Die 57. Straße, Ecke 5th Avenue war sein Jagdrevier. Hier zogen sie alle an seiner Kamera vorbei

"Wenn du zwischen ihm und einem Menschen standest, den er fotografieren wollte, wäre er notfalls über dich drübergeklettert, um dieses Foto zu bekommen", hat Kim Hastreiter, Gründerin des Paper Magazine, in diesen Tagen zu Protokoll gegeben.

Am vergangenen Samstag ist Bill Cunningham an den Folgen eines Schlaganfalls in New York gestorben. Er war 87 Jahre alt. Man weiß gar nicht, ob man die Menschen beneiden oder bemitleiden soll, die in den kommenden Wochen und Monaten sein privates Archiv sichten und auswerten werden: Zigtausende Fotos, ein fünf Dekaden umspannendes Welttheater all der gekommenen und vergangenen Geschmäcker, Launen und Identitäten, der politischen und gesellschaftlichen Gewissheiten, geronnen zu - Kleidern.

Am liebsten war Bill Cunningham mit dem Fahrrad durch Manhattan unterwegs. (Foto: Zeitgeist Films)

Wie wir uns kleiden, sagt, wie wir uns sehen: Keiner hat das so früh erkannt wie er.

Seit den Sechzigerjahren fotografierte Cunningham Menschen auf den Modeschauen von Mailand und Paris, vor allem aber in den Straßenschluchten von Manhattan, die er mit einem alten Fahrrad der Marke Schwinn durchstreifte, immer auf der Suche nach dem Stunner, einer Garderobe, die ihn umhaute. Die 57. Straße, Ecke 5th Avenue war sein bevorzugtes Jagdrevier, hier zogen sie an seiner Kamera vorbei: die liebestrunken Blumenkinder, die politisierten Schwulen, die hoffnungsvollen Working Girls in ihren adretten City-Kostümen, die breitschultrigen Hedonisten der Achtziger, die verlorenen Slacker der Neunziger. Und alle diese Bilder erschienen dann in der Sonntagsausgabe der New York Times, unter einem Motto, das den Zeitgeist der Woche oft besser illustrierte, als es so mancher Leitartikel ein paar Seiten zuvor vermochte. Streifen. Hippies. Sommer-Picknick. Plateausandalen. Die Farbe Rot.

In einem Aufsatz, den Cunningham 2002 über sich selbst geschrieben hat (und man will lieber nicht wissen, wie viel Überredungskunst da nötig war), beschreibt er eine Begegnung in den Siebzigern. Ein Bibermantel hatte seine Aufmerksamkeit erregt, "ich dachte: Ach sieh nur, wie diese Schulter geschnitten ist. Das ist so schön." Er machte ein Foto, und da fiel ihm auf, dass ringsum die Leute stehen geblieben waren und die Frau im Biber anstarrten. Er stellte fest, dass es Greta Garbo war.

Bill Cunningham hat seine Motive ohne Ansehen der Person gewählt, da war er zutiefst demokratisch. Er fotografierte die Stars, die Vogue-Chefinnen und millionenschweren Society-Ladies genauso wie die namenlosen Sekretärinnen, Kellnerinnen und Touristen, ganz egal. Solange sie sich nur die Mühe gemacht hatten, ein Outfit zusammenzustellen, das ihn begeisterte. "Ich habe mehr als einmal gesagt: Wir ziehen uns alle für Bill an", wie Anna Wintour mehr als einmal sagte.

Sozialkritische Bilder wird man in seinem Archiv nicht finden. Er war auf der Suche nach Schönheit - der Schönheit eines azurblauen Trompetenärmels, eines im Winde flatternden Rocksaums, einer davoneilenden Ferse, die in einem Slingpump steckt. Aber der Look hatte selbstbestimmt zu sein. Celebrity Dressing, die von Designern zu Werbezwecken ausstaffierten Stars, das hat ihn nie interessiert. An der Pforte zur Dior-Show erschien einmal die Schauspielerin Jennifer Lawrence, in eine Extravaganza des Hauses gekleidet, sie wurde von fünfzig brüllenden Fotografen empfangen. Zehn Meter die Rue de Rivoli hinunter fotografierte Bill Cunningham inzwischen eine Passantin. Sie trug einen karierten Rock von Miu Miu, ein weißes T-Shirt und Sandalen von Birkenstock.

Er war der Großvater der Streetstyle-Fotografie, lange bevor Leute wie Scott Schumann, Tommy Ton oder Suzy Bubble ihre Blogs in Betrieb nahmen, ja, lange bevor die Worte "Streetstyle" und "Blog" überhaupt erfunden waren. "On the Street", so hieß Cunninghams Foto-Kolumne.

Trendsetter erkannte er früher als andere. Noch wichtiger: Er erkannte guten Stil

Die Straße ist der Anfang und das Ende der Mode - Karl Lagerfeld, Hedi Slimane, John Galliano, Riccardo Tisci, Alexander McQueen haben ihre Ideen von der Straße aufgesogen und sie, weitergedacht und veredelt, wieder dorthin entlassen. Cunninghams Idee war Mitte der Sechziger so einfach wie revolutionär: Es reicht nicht, die Mode auf dem Laufsteg zu fotografieren, genauso wenig wie es reicht, einen Leoparden im Zoo zu betrachten. Um das Wesen eines Leoparden zu begreifen, muss man ihn in seiner natürlichen Umgebung sehen.

Die Mode in Cunninghams Bildern schwingt und atmet, sie ist mit sicherer Hand kombiniert und gestylt, sie macht ein Lebensgefühl fassbar. Trendsetter erkannte er früher als andere, weshalb es als Auszeichnung galt, von ihm fotografiert zu werden (und viele Damen sind sicherheitshalber gleich zweimal an seiner Kamera vorbeispaziert, meist ergebnislos). Viel wichtiger aber ist: Er erkannte guten Stil.

Jeder, der zehntausend Euro übrig hat, kann sich heute ein Komplettoutfit von Gucci kaufen und vor einer Modenschau aufmarschieren. Er kann auch in einen Müllsack steigen und sich eine Gucci-Tüte auf den Kopf setzen. So oder so wird er sich wenig später im Internet wiederfinden. Die Frage, was heutzutage eigentlich noch guter Stil ist, hat in dem Maße an Bedeutung abgenommen wie die Zahl der Blogger, Paparazzi und bezahlten Selbstdarsteller rund um die Mode zugenommen hat. Cunningham hatte ein sicheres Auge für all diese falschen Kostüme und grellen Übertreibungen, er mied sie, schon immer.

Geboren wurde er 1922 als eines von vier Kindern einer streng katholischen Familie. Nach einem kurzen Gastspiel in Harvard zog er 1948 nach New York und eröffnete ein Hutgeschäft unter dem Namen "William J.". Er benutzte seinen Nachnamen nicht, weil er seine Eltern nicht in Verlegenheit bringen wollte. Später arbeitete er als Autor für das Branchenblatt Women's Wear Daily, bis er sich mit dem Chefredakteur über die Frage entzweite, wer der wichtigere Designer sei, André Courrèges oder Yves Saint Laurent (Courrèges, glaubte Cunningham, und täuschte sich). 1966 schenkte ihm ein Freund seine erste Kamera, eine Olympus im Wert von 35 Dollar. Damit begann sein eigentliches Leben.

Wie dieses Leben genau aussah, darüber konnte man jahrelang nur spekulieren, bis 2010 ein Dokumentarfilm über ihn ins Kino kam. Das Projekt habe ihn zehn Jahre seines Lebens gekostet, erzählte der Regisseur Richard Press hinterher: "Acht Jahre, um Bill zu überzeugen, und zwei Jahre, um den Film zu machen." Die Premierenfeier verbrachte Cunningham damit, die Gäste zu fotografieren.

Nun erfuhr die Öffentlichkeit also, wie der längst berühmte Mann lebte, nämlich wie ein Mönch. Im Carnegie Tower bewohnte er ein kleines Apartment ohne eigene Küche und Bad, er schlief auf einer Schaumstoffmatratze, kein Schrank, nur eine Stange für die wenigen Kleidungsstücke, die er besaß, und ringsum Regalmeter um Regalmeter voller Fotonegative. "Geld ist die billigste Sache überhaupt, Freiheit die teuerste." Sein Motto.

Bill Cunningham hat niemals ein Taxi bestellt und keine Geschenke angenommen, und er hätte sich eher die Hand abgehackt, bevor er auf all den Galas, zu denen er eingeladen war, ein Glas Champagner akzeptiert hätte. Wenn er in Paris ein Zimmer reservieren wollte, schickte er eine Postkarte. Das Hotel war günstig.

Wenn man nun die vielen Nachrufe und Huldigungen liest, reibt man sich stellenweise die Augen. Wer da alles ins Rampenlicht tritt und ihn "Freund" nennt, das hätte ihn gewiss peinlich berührt. Keine Frage, die Modeleute haben Bill Cunningham geliebt, so wie sie jetzt höchstens noch die Kritikerin Suzy Menkes lieben. Aber dass er für etwas stand, was sie infrage stellte - Armut, Bescheidenheit, Unabhängigkeit- , das haben sie bis zuletzt nicht überrissen. Die Modeleute haben sich immer auch darin gefallen, dass sie diesen kleinen krummen Mann mit der Mülljacke eingelassen hatten in ihre illustre Mitte. Auf andere kleine Männer erstreckte sich diese Großzügigkeit nicht. Dazu eine letzte Episode.

Am Einlass zur Show von Valentino verlangte ein Türsteher einmal Cunninghams Einladungskarte. Das ist unüblich, da die wichtigen Menschen immer durchgewinkt werden. Cunningham wühlte in seiner Fototasche, aber da baute sich schon eine Frau auf, Klamotten im Wert eines Kleinwagens, und herrschte den Türsteher an: "Wissen Sie denn nicht, wen Sie vor sich haben - das ist Bill Cunningham! Der Mann ist eine Legende !!!" Der Blick, den Cunningham dem armen Mann zuwarf, sagte auf hunderterlei Art Entschuldigung.

In den letzten Jahren kam er immer noch ein wenig gebückter nach Paris, die Leute rätselten, ob er sich nicht allmählich etwas viel zumutete. Was ihn nach all den Jahren überhaupt noch antrieb. Aber wenn dann ein besonders aparter Plisseerock oder eine bestickte Volantbluse an ihm vorbeiwippte, war er auf den Beinen wie ein Hase, ein kindliches Lächeln in seinem guten alten Gesicht. In seinem Aufsatz steht: "Das Problem ist, ich bin kein guter Fotograf. Um ehrlich zu sein, ich bin zu schüchtern. Nicht aggressiv genug. Also eigentlich bin ich überhaupt nicht aggressiv. Ich mochte es einfach, wunderbar angezogene Frauen zu sehen, und das tue ich immer noch. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen."

© SZ vom 02.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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