Lokaltermin:Zeitwerk

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Es gibt tatsächlich noch Orte und Lokale, die man noch entdecken kann: Das Zeitwerk in Wernigerode ist so großartig, dass man sich fragt, wie so ein Großstadtrestaurant in einer verschlafenen Kleinstadt im Harz überleben kann.

Von Philipp Maußhardt

Es gibt einen großen Satz des noch größeren bayerischen Filmemachers Herbert Achternbusch, der auf das Zeitwerk bezogen folgendermaßen abgewandelt werden muss: "Diese Gegend hat mich gesund gemacht, und ich bleibe hier, bis man ihr das anschmeckt." Wie kann es sein, fragt man sich unwillkürlich, wenn man das Restaurant betreten und den ersten Teller vor sich stehen hat, wie kann es sein, dass ein so typisches Großstadtrestaurant in einer verschlafenen Stadt wie Wernigerode im Harz überleben kann?

Wernigerode ist so schön, dass man vor lauter Fachwerk keinen Balken mehr sieht. Die verwinkelten Gassen, die über dem Ort thronenden Burg, der Blick über die Hügel - alles ist eine einzige Reha-Maßnahme für das Auge. Robin Pietsch ist hier aufgewachsen, hier zur Schule gegangen, hier hat er seine erste Liebe getroffen. Der Chef des Restaurant Zeitwerk hat Konditor gelernt und noch einen Koch draufgesattelt. Er hätte mit seinem Talent in jeder Großstadt einen Job gefunden, er hätte nur gehen müssen. Aber Robin Pietsch blieb zu Hause. 2012 eröffnete er in Wernigerode sein erstes eigenes Lokal, nannte es Zeitwerk und wartete auf Kundschaft.

Die Idee, nur mit Produkten aus der unmittelbaren Umgebung zu kochen, ist für eine Gegend wie den Harz ein wenig waghalsig. Wir sind nicht in Baden, wir sind nicht in der Pfalz oder gar im Elsass, wo sich Bauern und Hersteller seit Jahrzehnten um hervorragende Produkte kümmern, wo die Vielseitigkeit der Fleisch-, Käse- oder Gemüsesorten das Schlaraffenland ersetzt. Harz? Das ist Wald und Kartoffelacker, und wer sich auf einen Besuch im Zeitwerk einlässt, braucht erst einmal gute Nerven. Das Lokal in der Altstadt nennt sich "Wohnzimmer-Restaurant." Tatsächlich sind die wenigen Tische im ersten Stock so angeordnet, dass man sich gleich heimisch fühlt und von jedem der Plätze einen Blick auf die Küchentheke hat, an der Pietsch und sein Team das Menü des Tages zubereiten. Es sind an diesem Tag elf Gänge, die alle Gäste bekommen, und für die sie sehr faire 69 Euro bezahlen.

Alle Tische sind an diesem Freitag besetzt, ohne Reservierung braucht es Glück, einen Platz zu bekommen. Kurz darauf liegen auf einer Schieferplatte zwei Rüben (gelb und rot), beide mariniert, dazu ein Radieschen (fermentiert), und in einem putzigen Käfig gefangen grüßt ein Wachtelei. Das ist alles nicht nur schön anzusehen, es schmeckt auch nach Bodenständigkeit. Nicht weniger lustig ist der nächste Gang: Da hängt ein mild geräucherter Schinken an einer Art Wäscheleine zu dunklem, ganz frisch gebackenem Brot.

Während derzeit auf Berliner Restaurants, die mit "brutal lokaler" Küche werben, Lobeshymnen abgefeuert werden, müssen die Betreiber in Wernigerode um Anerkennung kämpfen. Klar nicken heute fast alle Gäste zustimmend, wenn sich ein Küchenchef auf seinen Standort besinnt. Aber das tun inzwischen fast alle (auch wenn es oft beim Lippenbekenntnis bleibt). Im Zeitwerk meinen sie es ernst, und nach einer wunderbaren Schwarzwurzel ("Winterspargel") verfliegt mit einem Schaum aus Petersilienwurzeln (dazu gibt es kross gebratene Petersilien-Chips) jeder Zweifel, sie könnten hier eine Show abziehen.

(Foto: N/A)

Angenehm ist gerade die Zurückhaltung, mit der Restaurantleiter Florian Raake die Teller bereitstellt, ohne durch alberne Gebrauchsanleitungen die Gäste zu bevormunden. Er nimmt sich Zeit, etwas über die Produkte oder den Wein zu erzählen, aber nie zu viel. Die "Forelle Teil 1" braucht keine Anleitung, ob man sie mit dem gebratenen Grünkohl oder erst einmal ohne oder doch nur mit einem Tropfen der wunderbaren Birnenreduktion versucht. Dass man mit der Qualität anderenorts längst für Aufsehen gesorgt hätte, nimmt man zur Kenntnis. So gelassen ist man hier, dass man sich vor einiger Zeit sogar erlaubte, Filmstar George Clooney wieder auszuladen, weil sein Management wollte, dass kein anderer Gast zugegen ist.

Irgendwann zwischen dem sechsten und siebten Gang steht dann Koch Pietsch am Tisch und plaudert. "Ich komme von hier, ich fühl' mich hier wohl, warum soll ich nach Berlin oder sonst wohin?" Lobt man ihn, lacht er verschmitzt und schwärmt lieber von den Forellen, die nicht weit von hier in einem Bergbachbecken gezüchtet werden. Die "Forelle Teil 2" ist denn auch nochmals eine Steigerung der ersten Variante, wie sie im eigenen Sud dahergeschwommen kommt, mit essbaren Blüten zu einem Stillleben drapiert.

Wir sind im Regionalhimmel angekommen, als wir das Bäckchen von der Ziege auf der Zunge zergehen lassen, das sich mit Rosenkohl und einem geräucherten Kartoffelbrei zu einem fulminanten Dreiklang vermischt. Wir werden dieses Restaurant vermissen, das wissen wir schon vor dem Dessert, das auf der Speisekarte prosaisch als "Kürbis /noch mehr Kürbis" nicht viel erahnen lässt. Er stellt sich als Kürbis-Joghurt-Eis heraus, kombiniert mit gebackenem Schnitz und gerösteten Kürbiskernen, so exotisch, dass einem jede Mango gestohlen bleiben kann.

Nach einer Auswahl von Käsesorten aus dem Harz und beflügelt von den hervorragend ausgesuchten Begleitweinen (wird nach Verbrauch berechnet), schweben wir zu unserer Schlafstatt. Glücklich darüber, dass es noch Orte gibt, die man entdecken muss, ohne Restaurantführer.

© SZ vom 14.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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