Lokaltermin:Top Air

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Die Gourmetküche wird immer komplizierter. Ein Restaurant am Flughafen Stuttgart serviert zur Orientierung nun Luftbilder seiner Gerichte - Legende inklusive.

Von Philipp Mausshard

Wasabiwurzel mit Gurkentapioka und Passe Pierre, Tonkabohnen-Brioche mit Sishokresse und Buchenpilze mit Schokoladen-Curry-Jus aus Valrhona Guanaja: Die Gourmetküche entzieht sich immer mehr unserem Urteil, findet unser Autor Philipp Maußhardt. Das Restaurant Top Air am Flughafen Stuttgart serviert zur Orientierung nun Luftbilder seiner komplizierten Gerichte - Legende inklusive.

Ein Freund erkundigte sich kürzlich nach meiner jüngsten Restauranterfahrung; Kritiker hören diese Frage recht häufig, und diesmal lautete der Dialog wie folgt: "Ich war essen im Stuttgarter Flughafen." - "Oh, da kann man essen?" - "Die haben sogar einen Michelin-Stern." - "Ach. Was gab's denn?" - "Das kann ich dir nicht sagen." - "Wie bitte?"

Wer nach einem zweistündigen Mittagessen im Lokal auf die Frage, was er gegessen hat, keine schlüssige Antwort geben kann, hat entweder eine Gedächtnisstörung, ein Faible für Mongolischen Eintopf Surprise oder schlicht zu viel getrunken. Ich hingegen zog zu meiner Verteidigung einen Briefumschlag aus der Tasche und nahm als Beweis die Fotos heraus, die der Gast im "Top Air" zu jedem Gang in eine Halterung neben den Teller gesteckt bekommt. Es ist eine Art Luftaufnahme des Gerichts, versehen mit Pfeilen und allerlei Erklärungen, vermutlich nicht unähnlich der Bilder, die Drohnen von militärischen Aufklärungsflügen mitbringen. Im Top Air aber sind diese Fotos auch für den versierten Esser unverzichtbar, damit er versteht, was überhaupt auf seinem Teller los ist.

Der Auftakt war noch einigermaßen übersichtlich. Es gab einen Gänseleber-Lolli, eine Tortilla vom Freilandhuhn, Tartar vom Simmentaler Rind sowie Erdnüsse in Bambuskohle. So weit, so sehr gut. Was dann aber folgte, zeigt anschaulich, was die Sterneküche heute alles unternimmt, damit sogar analytisch selbstbewusste Gourmets sich bei Tisch fühlen, als säßen sie in der Abi-Nachprüfung zur linearen Algebra.

Als Vorspeise war nur Faröer Lachs mit Gurke und Sauerrahm bestellt. Bekommen haben wir einen Teller, auf dem man zwar in Richtung Mitte ein schönes Stück rosa gebratenen Lachs erkennen konnte, doch um den Fisch herum war eine wilde, grüne Landschaft aufgebaut, mit Seen und Bergen, Inseln und kleinen Hinkelsteinen. Westlich vom Lachs lag ein grüner Hubbel, der sich auf der Landkarte als "Gurkentapioka" identifizieren ließ. Er war, entnahm ich der Kartenlegende, umschlossen von einem "Wasabi Kroepoek". Im grünen Gurkenfond schwammen geeiste Sauerrahmperlen und rosarote Keta-Kaviar-Knöpfe, die beim Bewegen des Tellers sanft gegen die Sushi-Rolle aus Gurke, Lachs und Ei schwappten, die wiederum neben einer gehobelten Wasabiwurzel und einem Gurkenröllchen mit Passe Pierre (vulgo Queller) lag.

Zur Beruhigung wanderte der Blick öfter auf die graue Betonfläche vor dem Fenster. Flugzeuge starteten und landeten, und wie in einer Lego-Landschaft waren überall kleine Wägelchen fürs Gepäck auf dem Rollfeld verteilt. Das Top Air liegt im ersten Stock des Stuttgarter Flughafens und beherbergt neben einem Bistro für Eilige das älteste Sternelokal der Stadt. Die Auszeichnung wurde vor 23 Jahren verliehen und von bisher jedem Küchenchef gehalten.

Ähnlich abenteuerlich war dann das Hauptgericht. Eigentlich hatte "Rehrücken" auf der Speisekarte gestanden. Und den konnte man auch tatsächlich entdecken unter einem Gebirge von - ja von was eigentlich? Die dazugehörige akribische Zeichnung benannte neun weitere Elemente, und nun musste man entscheiden: erst essen und dann lesen, oder erst lesen und dann den womöglich abgekühlten Rehrücken essen? Wir lasen zuerst. Auf dem Frühlingsrollentunnel mit Selleriecreme thronte eine rote Shisokresse, umrahmt von einer getrockneten Tonkabohnenbrioche und dreierlei Melonenperlen. Farblich kontrastierte der helle Pinienkernpuder mit dem fast schwarzen Schokoladen-Curry-Jus aus Valrhona Guanaja. Ach ja, und Buchenpilze lagen da noch und Purple-Curry-Pulver.

Wie es schmeckte? Schwer zu sagen. Es kam ganz darauf an, welche Kombination der vielen Bestandteile man gerade auf die Gabel geladen hatte. Bei der Bretonischen Rotbarbe etwa harmonierten die gebackenen Ziegenfrischkäseperlen in Asche wunderbar mit dem Escabechesud; auch wenn wir kurz googeln mussten, was Escabeche ist (ein in Nordafrika wie Südamerika beliebtes saures Fischgericht mit persischem Namen) - so machte das Tohuwabohu auf dem Teller ja Sinn. Es knackste im Mund (geeiste Sauerrahmperlen), es schmolz (Gänseleber-Lolli), es kitzelte (Purple-Curry-Pulver). Gourmet-Erlebnisse gleichen immer mehr einem international inszenierten Kindergeburtstag für Große.

Auch die Ankündigung des Desserts - "Kirsche" -entsprach der heute üblichen Speisekartenlakonik. Das ist nicht nur gewolltes Understatement. Man muss wohl einräumen, dass es oft nicht mehr möglich zu sein scheint, ein Gericht - ob nun komplex oder verkünstelt - nur ansatzweise zu umreißen, es sei denn, man will einen Essay schreiben. Für "Kirsche" jedenfalls dürfte der Patissier von Küchenchef Marco Akuzun einen Vormittag investiert haben. Er baute Türmchen, schichtete Cremes zu Pyramiden, verzierte alles mit Klötzchen. Die "Kirsche" lag dann ganz real auf dem Teller - in gebackener Form mit Haselnusskern, auf einem Beet aus Passionsfruchtcreme. Ihr gegenüber räkelte sich ein winziges Stück eingelegte Kirsche auf einem Kirschsorbet im Haselnussmantel, dazwischen die Kirsch-Schoko-Haselnussschnitte neben der Kirschcreme und dem Kirschpapier.

Eine Faustregel der Kritik besagt, dass zu verkopfte Teller, die sich dem Esser nur mit vielen Erläuterungen erschließen, auch nicht gut sind. Wenn es aber trotzdem gut war? Nun, wenn Köche und Kritiker ehrlicher wären, dann würden sie auch mal zugeben, dass sich ihr Handwerk immer mehr der Darstellbarkeit, dem Fassungsvermögen und der Analyse entzieht.

© SZ vom 26.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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