Im Nobelhart & Schmutzig, das weiß der Gast oft schon, wenn er einen Tisch bucht, kochen sie "brutal lokal". So zumindest lautet der hauseigene Schlachtruf, und der klingt - schon recht, wir sind in Berlin - angemessen rotzig und trotzig. So als wolle man es den Ungläubigen mal zeigen mit der radikalen Auslegung des Mantras: Warum in die Ferne schweifen...
Nein, leise Töne sind Billy Wagners Sache nicht. Jeder in Berlin sollte möglichst früh erfahren, dass er sein Restaurant nach dem Titel einer Reportage über Polosport benannt hat und dass das berühmte Kopenhagener Noma als Vorbild für den Küchenstil dient. In Sachen Legendenbildung ist der Chef beneidenswert versiert, dementsprechend beachtlich war - lange vor der Eröffnung - das Tamtam um sein Lokal. Wagner arbeitete früher als Sommelier der hippen Weinbar Rutz, Küchenchef Micha Schäfer kochte in der Frankfurter Villa Merton bereits eine ausgewiesen regionale Highend-Küche. Im Nobelhart & Schmutzig kommen nun ausschließlich Pflanzen und Tiere aus der Berliner Umgebung auf den Tisch. Und Wagner und Schäfer meinen es ernst. Vielleicht etwas zu ernst.
Von außen gibt sich das "Speiselokal" (Befehls-Lesart: "speise lokal!") an der Friedrichstraße verschlossen. Kameras unerwünscht, bitte klingeln. Hinter der Tür hat der Hausherr bereits Position bezogen und ermahnt vorfreudige Gäste, nicht einfach ums Eck zu marschieren. Der Empfang ist eine Art Vorzimmer hinter einer Trennwand. Das Allerheiligste überrascht zunächst mit ausgeklügelter Beleuchtung: die Gäste sitzen, abgesehen von Spots für die Teller, recht dunkel, gruppiert um einen tiefen Tresen, der die erleuchtete Bühne einfasst: die Küche. Das macht Spaß, auch wenn in einem Lokal dieser Liga am Abend natürlich nicht mehr groß gekocht wird, sondern im Prinzip nur à la minute assembliert, was am Tag - oder Tage früher - vorbereitet wurde. Aber der Ehrfurcht vor guter Küchenarbeit muss das ja nicht abträglich sein.
Es gibt ein Zehn-Gänge-Menü für faire 80 Euro, tituliert als "Ihre Mahlzeit". Darin wird aber auch das Brot aus der Markthalle Neun mit polnischer Rohmilchbutter verzeichnet. Schon die Bandbreite beim Aperitif spiegelt gleichermaßen Wagners enormes Wissen sowie den angemessen zur Schau getragenen Nonkonformismus, mit dem der rotbärtige Neo-Szene-Wirt sich dem Thema Trinken nähert: Furztrockenen Lambrusco gibt es hier ebenso wie dänischen Rhabarberwein. Wie das Noma hat Wagner beim Wein die Pflicht zur Regionalität ausgesetzt. Und wie im Noma servieren die Köche das Essen hier auf schlichter Keramik, um es bei Tisch selbst zu erklären. Einige Gäste wohnen der Performance artig bei wie in der Oper, andere versuchen, durch eigenes Weinwissen zu brillieren. Doch Wagner doziert unbeirrt weiter, wie und was die Gäste zu schmecken hätten.
Da kann es passieren, dass man selbst, den Löffel noch im Mund, quer über die Theke vom Chef angepfiffen wird, man solle den Bissen gefälligst nicht hinunterschlucken, sondern, so wie eingangs befohlen, zugleich mit dem Wein erkunden. Kann sein, dass man das gar nicht so gerne hat, die herrliche Forelle mit Kartoffelpüree, Spinatsaft und Knoblauchsrauke zugleich mit dem spontanvergorenen Sauvignon Blanc am Gaumen, aber das ist dem Hausherrn egal. Wagner mag ja wahnsinnig viel zu seinen Getränken zu erzählen haben, doch das lenkt leider auch ein wenig von Schäfers Küche ab.
Die ist trotz allen Gebarens gar nicht modisch oder rebellisch, sondern ziemlich genau so, wie man sie sich heutzutage wünscht: die Zutaten so frisch wie nur möglich, (was nur geht, wenn sie ums Eck wachsen), gemüselastig, die Tiere anständig gehalten, wenige Elemente am Teller, diese aber oft so überraschend kombiniert und in einer Intensität, dass man entspannt feststellen kann: Das ist keine vom nordischen Starkoch René Redzepi abgekupferte Effekthascherei, das ist sehr ernst zu nehmende Küche. Ob ein leicht bitterer roher Salatkeil, der - wunderbar harmonisch - mit Liebstöckel, knusprigem Emmer und Lammfond gereicht wird. Oder eine extrem puristische Selleriesuppe, der Rindernierenfett, Wunderlauchknospen und die genau richtige Temperatur fast so etwas wie japanische Meisterschaft verleihen, wären da nicht der Madeira oder alternativ das Berliner India Pale Ale als nicht alltägliche Begleiter dazu.
Schäfers milde Blutwurst kommt mit knusprigen Radieschen, Giersch und knallgrün getarnter, buttriger Petersiliensauce. Bloß der Hauptgang, über Rebenholz geräucherter Nacken vom Freilandschwein, weckt kurz den Verdacht, dass man sich auch hier noch nicht traut, alle Konventionen eines großen Menüs über den Haufen zu werfen, so (zu) groß ist das saftige Fleischstück mit den umwerfenden Kamillezwiebeln. Danach aber: herrliches Sauerampfersorbet mit Dillblütenbaiser und Chicoréebrand.
Hier hat ein Koch begriffen, welch ein Schatz um ihn herum wächst. Sein Talent und seine Vorgeschichte erlauben ihm, alles Unnötige wegzulassen. Schäfer kocht so produktbewusst und schmackhaft wie leichtfüßig. Er und Wagner könnten ruhig darauf vertrauen, dass die Gäste das auch ohne Belehrungen zu schätzen wissen.