Lokaltermin:100/200 Kitchen

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Das 100/200 Kitchen liegt etwas versteckt. Doch der Weg lohnt, es geht um das spannendste Restaurant, das in diesem Jahr in Hamburg eröffnet hat.

Hier muss es sein. Direkt vor den Elbbrücken diktiert das Navi einen letzten Schlenker, Lagerhallen und Büros liegen im Dunkel, hell erleuchtet ist indes das Gebäude Brandshofer Deich 68. Eine schlichte Klingel, der Türöffner summt, drinnen weisen rote Kordeln den Weg zum Aufzug. Als wir den dritten Stock erreichen, fasst es unsere Begleitung gut zusammen: "Das ist richtig mutig." Vielleicht ist es aber einfach nur sehr deutsch, so über die etwas abseitige Lage der "100/200 Kitchen" zu denken, in London und New York wäre der Weg bereits Teil der Erfahrung. Mutig ist eher das Konzept, das Thomas Imbusch für sein Restaurant entwickelt hat. Ein Konzept, das Hamburg die wohl spannendste Lokaleröffnung des Jahres verschafft hat.

Oben öffnen sich die Türen in einen großen, dunklen Raum mit schweren Holztischen, Designstühlen und weiter Fensterfront, im Zentrum leuchtet die offene Küche, deren tonnenschweres Herz ein exklusiv angefertigter Molteni-Herd bildet. Gekocht wird mit Wasser (100 Grad) und Ofenwärme (200 Grad), "Der Rest ist Handwerk", sagt Imbusch betont bescheiden und bittet alle Gäste in die Küche.

In zügigem Tempo serviert sein Team dort fünf Kleinigkeiten, jede steht für eine der fünf Geschmäcker, zwischen denen der Mensch unterscheidet, das soll den Gaumen wecken und dem Chef Gelegenheit geben, die Gäste mit seiner Küche vertraut zu machen. Ein Rote-Bete-Macaron mit Tomate und Melone bringt Süße, gefolgt von knusprig splitterndem Blätterteig-Zwiebel-Gebäck, der Balsamessig kitzelt säuerlich die milden Zwiebeln. Jetzt Salz. Saftige Austern werden mit ausgelassenem Rinderfett beglänzt und mit scharfem Kimchi getoppt - grandios! Ebenso die bittere grüne Olive, die in Zucker blanchiert und mit Grapefruit gereicht wird. Zuletzt Umami - eine komplexe Brühe aus Hühnerfüßen und Kombu-Alge, würzig, samtig.

Nebenbei erklärt Imbusch das Menü. Es gibt jeden Abend acht Gänge, die im Detail erst feststehen, wenn die Gäste da sind. Imbusch kocht nur nach Marktlage. Was seine Produzenten an saisonalen Produkten liefern, bestimmt die Karte. Im Mittelpunkt stehen stets zwei Hauptprodukte, heute ist das Goldforelle von der Fischwirtschaft Reese in Plön und ein Jungrind aus Lauenburg, das, im Ganzen verarbeitet, auch an den Folgetagen das Menü bestimmen wird. Dieses Konzept entwickelte Imbusch, der unter anderem bei Ausnahmekoch Christian Bau sein Handwerk lernte, in Teilen bereits auf seiner letzten Station vor der Selbständigkeit: Imbusch leitete die Küche von Tim Mälzers "Madame X".

Überraschungsmenü (95 bis 119 Euro) und Weinbegleitung (61 Euro) haben wir vorab online reserviert und bezahlt. Das neue System soll die Restaurants vor ärgerlichen No-Shows schützen. Sich einlassen, auf das was kommt, ist jetzt also die einzige Herausforderung. Pâtissier Mario Michaelis bringt ofenwarmes Brot und herrlich salzige Joghurtbutter. Die Buttermolke wurde im Brot verbacken, nichts kommt weg, alles ist hausgemacht. Das gilt auch für das Knäckebrot mit mildem Sauerkraut und leichtem Forellen-Tatar, dazu gibt es Forellen-Kaviar und ein säuerliches Gel aus dem Saft des fermentierten Krautes. Sauerkraut mögen Sommeliers eigentlich nicht besonders, Gastgeberin und Sommelière Sophie Lehmann ficht das aber nicht an. Der 2016er Rote Traminer "Hautnah" von Nico Espenschied aus Rheinhessen passt perfekt.

Noch mal Forelle als zweiter Gang, jetzt glasig gegart, die Haut knusperdünn, begleitet von Daikon-Rettich mit brauner Butter und Mandeln, gebettet in buttrig-luftigem Schaum aus Dashi. Jenes Umami-Wunder, das die Basis der japanischen Küche bildet, ist ein aus Kombu-Alge und geräuchertem, getrocknetem Bonito gebrühter Grund-Fond. Die drei folgenden Gänge vom Jungrind führen von Japan direkt nach Frankreich, mit herbstlichen Produkten aus Norddeutschland. Imbusch sieht sich, gegen den Trend zur Radikalregionalität, nur Qualität und Geschmack verpflichtet. Ein cremiges Lebermousse wird mit geschwenkten Rosenkohlblättern, zartem Kürbis und fermentierten Knospen von Fliederbeeren angerichtet, die eine ganz eigene Süße und eine zarte Ahnung von Holunder beisteuern. Zur Nudelrolle mit fleischiger Mark- und Zwerchfell-Füllung "Bordelaiser Art" serviert die Sommelière einen wohltemperierten, kühlen Rotwein: Der 2014er Gestad von Ziereisen ist als badischer Landwein deklariert, weit untertrieben für diesen vielschichtigen Syrah aus Deutschland: Mit seiner frischen Eleganz zeigt er eine neue Facette der Rebsorte.

Überhaupt wählt Sophie Lehmann spannende Weine aus, die hier und da fordern, ohne zu überfordern, ohne Effekthascherei. Hauptgang ist Rücken vom Rind: zwei Scheiben vom auf den Punkt gebratenen Steak mit einem Stück würzigem Fett werden gerahmt von einem Gel von grünem Pfeffer sowie einer perfekten Jus, die aus Knochen, Wein und Wasser gewonnen wurde. Es geht um Klarheit und Einfachheit, ein Minimalismus, der nur aus besten Produkten und echtem Handwerk erwachsen kann.

Der Gastraum ist gefüllt mit fröhlichen Menschen, die Musik gut, die Stimmung so entspannt wie die konzentrierten Köche im Küchen-Raumschiff in der Mitte des Raumes. Pâtissier Michaelis gehört zu den großen Talenten seiner Zunft und überzeugt mit einem akkurat gearbeiteten Macaron aus Alba-Trüffel mit gebrannter Haselnuss, luftigem Baba au Rhum auf Ananassalat mit einem Schlag Vanillecrème Chantilly. Ein kleiner Windbeutel mit Lavendelcrème Anglaise wird mit einem Löffel Schokoladenganache zum Lutschen serviert. Das ist alles auf den Punkt, ein Vergnügen. Und Imbuschs Mut, Küche und Gastlichkeit am Hamburger Billhafen weiterzudenken, belohnt vor allem: seine Gäste!

© SZ vom 17.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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