Italien:Die befreite Stadt

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"Wir hatten alle viel Zeit, in uns zu gehen, nachzudenken": In Mailand traf die Corona-Krise Modemacher, Künstler und Designer besonders hart. Über eine Metropole, die wieder Mut fasst - und auf ihren Einfallsreichtum vertraut.

Von Anne Goebel

Als das Wall Street Journal seinen Lesern vor zwei Jahren den besten Geheimtipp für eine Reise nach Italien verrät, lautet der: "Yes, Milan." Das vorangestellte Ja nimmt die vermutete Überraschung beim Lesen vorweg, in doppelter Hinsicht: Das industriegraue Mailand soll eine Reise wert sein? Oder aber: Diese Stadt und unentdeckt? Denn bei Menschen, die sich im Alltag mit ausgesuchten Dingen zu umgeben pflegen, ist die Metropole ja längst ein Synonym für fabelhaft gutes Design.

Die blitzende Maschine für den Kaffee. Das markante Sofa, natürlich ein Klassiker, die filigrane und sehr teure Hängeleuchte, der körnigste Risottoreis, das wohlgeformte Besteck, der historische Alfa in der Garage und die Prada-Tasche am Garderobenhaken: Unter Stilbewussten konnte kein Mensch daran zweifeln, dass die geschmackvollsten Dinge der Welt meistens aus Mailand kommen. Industriemetropole - das ja. Aber auch eine einzige Werkstatt der Schönheit.

Dann kam Covid-19 und machte die Lombardei und sein Zentrum Mailand zum Symbol für die Verheerungen des Virus. Auf einmal steht die geschäftige Region für Bilder von leer gefegten Straßen, gestapelten Särgen, vor Erschöpfung weinenden Krankenschwestern. Und jetzt, wo das Schlimmste vielleicht vorüber ist, werden die enormen wirtschaftlichen Schäden für Italien sichtbar. Was gilt es da noch, ein Labor der harmonischen Form zu sein, Hauptstadt der Gestalter, Architekten und Modeschöpfer: Ist das jetzt kaum noch etwas wert - oder gerade besonders viel?

Anruf bei Carla Sozzani, Grande Dame der Mailänder Szene, eine zierliche Mäzenatin mit weißblondem Loreley-Zopf. Auf den Straßen erlaubt die "fase due", die Phase zwei, den Menschen wieder mehr Bewegungsfreiheit, ihr steht der Sinn nicht nach großen Spaziergängen. "Das Herz von Mailand schlägt für mich in meinem Laden", sagt Sozzani. 10 Corso Como, benannt nach seiner Adresse, ist mehr als ein Geschäft. Sozzani verkauft hier seit 1990 nicht nur Mode von Ferragamo oder legendäre Entwürfe der Mailänder Designgruppe Memphis (Markenzeichen: knallbunt) und stellt zeitgenössische Kunst aus. Sie fördert auch junge Talente. "Ich glaube, dass es eine Explosion an Kreativität geben wird nach der Pandemie", sagt die 72-Jährige mit der leicht heiseren Stimme. "Wir alle hatten viel Zeit, in uns zu gehen, nachzudenken. Das kann sein Gutes haben, sicher. Aber jetzt gibt es eine riesige Lust, etwas zu machen, zu kreieren, sich endlich wieder auszudrücken."

Die Galeristin Carla Sozzani plädiert für ein Umdenken in der Mode: Qualität statt Quantität und mehr Zeit, um Entwürfe reifen zu lassen

Sozzani gehört zu denjenigen, die eine Wende in der überhitzten Modewelt jetzt für möglich halten - und für nötig sowieso. "Es muss wieder mehr Zeit geben, um Entwürfe reifen zu lassen. Qualität von Quantität zu unterscheiden." Zurück zum Rhythmus von zwei Kollektionen pro Jahr und saisonal passende Ware in den Läden: Das hält sie für die wesentlichen Punkte. "Was soll der Irrsinn mit Wintersachen im Sommer und umgekehrt?" Wobei Mailand als Modestadt und Sitz großer Häuser wie Prada oder Armani den Irrsinn kräftig mitbefeuert und damit Milliardengeschäfte gemacht hat.

Kultsessel: Das Modell Up5 von Designer Gaetano Pesce, 1969 für die Firma B&B Italia entworfen, erinnert ironisch an eine italienische Mamma. (Foto: B&B Italia)

Anzeichen für eine Besinnung auf "slow fashion", die jetzt plötzlich jeder predigt, hat Sozzani jedenfalls schon vor der Corona-Krise bemerkt. "Früher waren hier zum Beispiel alle verrückt nach massenweise Taschen. Jetzt kaufen sie nicht zehn Sachen, sondern nur eine. Vielleicht einen Mantel. Aber einen großartigen." Uno ma gnifico. Im Moment geschieht allerdings nichts davon, ihr Geschäft öffnet erst am 1. Juni wieder. Bis dahin sind alle Kostbarkeiten unter Plastikplanen gegen Staub geschützt. "Ein seltsamer Anblick", sagt sie. "Manchmal denke ich, die Dinge warten darauf, befreit zu werden. Wie wir Menschen."

Der Stillstand in Herstellung und Verkauf lähmt den gesamten Großraum Mailand, mit einer Ballung der wichtigsten Konzerne der ökonomische Motor Italiens. Namhafte Einrichtungsfirmen wie B&B Italia, Artemide oder Minotti sind nicht nur potente Unternehmen, sondern Ikonen des zeitgenössischen Designs. In einem Brandbrief haben sie die baldmögliche Rückkehr zur Produktion gefordert. Nur so könne dauerhafter Schaden abgewendet werden vom weltweiten Erfolg des "Made in Italy" als Marke für stilbildende Gestaltung (welche Einzelteile wo vorgefertigt werden, ist eine andere Frage).

Con stile: Zwei Besucherinnen der Prada-Modenschau bei der Mailänder Fashion Week im September 2019. (Foto: Getty Images Entertainment)

Natürlich wird da rhetorisch ordentlich aufgetragen. Und als vor zwei Wochen die ersten Modefirmen kleine Schritte zurück an die Arbeit vermeldeten, wurde das in der Presse gefeiert wie der Einzug in ein WM-Finale. Endlich darf man mit den Großen der "moda tricolore", zuletzt als Produzenten von Schutzmasken und generöse Spender in den Schlagzeilen, wieder ein festliches Wort wie "Kollektion" in Verbindung bringen. Ob die nächste Mailänder Fashion Week im September überhaupt wie gewohnt stattfindet, ist fraglich.

Bei allem Pathos zeigt diese Aufmerksamkeit auch, dass in Mailand die Begeisterung für das Schöpferische zum Selbstverständnis der Menschen gehört. Wie schöne Dinge einen Durchschnittstag erfreulicher machen können, leichter, ihn manchmal vielleicht sogar schwebend erscheinen lassen - warum sollte man diese Frage nicht wichtig nehmen? Und das fängt eben beim kleinsten Detail an, der Art, wie der Stoff eines Mantels fällt, dem Schwung einer Sofalehne, der Silhouette eines Kotflügels. Oder dem Tonfall, in dem die sonst eher kühle Carla Sozzani das Wort magnifico ausspricht, wenn sie ein besonders kunstvoll gearbeitetes Stück erwähnt. Es sagt jedenfalls einiges über diese Stadt, dass mitten in der Pandemie die kleinen Lehrstunden der Videoserie "Design in Pigiama" (Design im Pyjama) über Stil-Klassiker großen Erfolg auf Twitter haben.

Jede Krise birgt auch Chancen - Mailands Anfänge als Designhauptstadt waren von Armut geprägt

Zu gestalten und entwerfen ist in Mailand seit jeher fest im Alltag verankert. Auch wenn die Accessoires von Kartell oder die Kultsessel von B&B Italia Luxusgüter sind: Den Pionieren wie Gio Ponti oder Achille Castiglioni ging es nach 1945 darum, trotz Materialknappheit funktionelle Gebrauchsgegenstände zu kreieren. "Il design italiano nasce povero", sagt Gabriele Neri, das italienische Design wird arm geboren. "Am Anfang ging es nicht um Glamour oder schicke Produkte. Sondern um Einfachheit in einer Zeit der Armut." Der Dozent für Gestaltung an der Hochschule Politecnico nennt zum Beispiel Castiglionis legendären Hocker Mezzadro, frankensteinhaft zusammengefügt aus einem Traktorsitz, federndem Metall, Holzständer. Auch heute wird Design nicht als etwas Elitäres betrachtet, sondern als Bestandteil des täglichen Lebens. Das liegt auch daran, dass es bei vielen Entwürfen aus dem Großlabor Mailand nicht nur um Eleganz geht, sondern um Witz und Ironie wie bei der ikonischen Sessel-Serie Up von 1969, die mit ihren Kurven an eine italienische mamma erinnert. Besonders herb war im Krisenjahr 2020 die Absage des Salone del Mobile, der Mailänder Möbelmesse im April, die weltweit als wichtigstes Branchentreffen gilt. Die Schau wird 2021 nachgeholt. Trotz solcher Rückschläge glaubt Gabriele Neri nicht, dass all den Gestaltern, Architekten und Planern in der 1,4-Millionen-Stadt, den Etablierten und Newcomern, den Mainstreamlern und Querdenkern die Ideen ausgehen. Im Gegenteil. "Jeder von ihnen hat seine Umgebung in den letzten Monaten gezwungenermaßen auf völlig neue Weise betrachtet. Das setzt Energien frei", sagt Neri. Und die spannendsten Fragen werden auch nach der Pandemie relevant sein. "Wie können wir Wohnräume und Möbel flexibler gestalten? Wie planen wir nach dieser Erfahrung unsere Innenstädte?

Diese Themen bleiben." Zu den jungen Talenten, von deren Frische und Schwung jetzt so viel die Rede ist, gehören Dorian Tarantini und Matteo Mena. Ihr Männermode-Label M1992 ist klein, gilt aber unter Kennern als Marke mit Potenzial. Der Verkauf der aktuellen Kollektion ist praktisch flachgefallen, für die nächste Saison fragen Einkäufer immerhin zögerlich an. "Es ist nicht leicht", sagt Dorian. "Aber alle sitzen im selben Boot, nicht mal Megabrands wie Gucci wurden verschont. Das schafft eine Aufbruchstimmung."

Er sehe eine Chance für Nischenmarken, auf sich aufmerksam zu machen - gerade jetzt, wo die ganze kreative Maschinerie auf den Kopf gestellt ist. "Das Wichtigste ist, über die sozialen Medien sichtbar zu bleiben. Wir planen in kleinen Schritten." Beim Blick aus dem Fenster, erzählt er noch, schaue er in einen strahlenden Morgen. "Es ist verrückt. Durch die Quarantäne sind wir dieses Jahr vom Winter direkt in den Sommer geraten." Und, ja, das dürfe man ruhig symbolisch verstehen.

© SZ vom 09.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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