Essen & Trinken:Einfach gut

Lesezeit: 6 Min.

Viele junge Spitzenköche entziehen sich heute dem Druck der Gourmetführer. In der Küche setzen sie auf Bodenständigkeit mit Anspruch - und verzichten dafür auf Ehrungen wie Michelinsterne.

Von Patricia Bröhm

An den Tag, als er seinen ersten Stern erkochte, kann sich Martin Rehmann so genau erinnern, als wäre es gestern gewesen. Da war diese enorme Euphorie, großer Stolz und auch der Triumph, es seinem Vorgänger gezeigt zu haben - denn der hatte ihm prophezeit, er werde das nie schaffen. Doch zugleich war da diese Unsicherheit, weil der frisch gekürte Sternekoch wusste: Morgen bin ich arbeitslos. Der Inhaber des Restaurants, der inzwischen geschlossenen "Villa am See" am Tegernsee, habe ihm gesagt: "Wenn du einen Stern erkochst, wirst du gehen müssen." Der Chef wollte die Auszeichnung nicht mehr. Er war der Überzeugung, sie mache sein Lokal unrentabel; sie sei eine Hemmschwelle, die zu viele Gäste von einem Besuch abhalte.

Rehmanns Geschichte zeigt vor allem die Ambivalenz, die den Auszeichnungen in der Spitzengastronomie heute anhaftet. Der Michelin-Stern, die emblematischste aller Restaurantbewertungen, ist sehr begehrt, weil sie Ruhm, Ehre und Gäste bringt, zugleich wird sie aber von immer mehr Gastronomen auch als Belastung empfunden, wegen der damit verbundenen Erwartungshaltung vieler Gäste und dem Druck, die hohe Auszeichnung nun jedes Jahr halten zu müssen. Ein Thema, das heute für alle Restaurantführer und ihre Wertungen gilt, weil sich gerade die neue Generation von Köchen oft anders definiert als über Sterne, Punkte oder Hauben. Sie reibt sich am Konzept "Gourmetrestaurant", das vor allem in Deutschland allzu oft mit steifem Ambiente assoziiert wird.

Zuletzt machten sogar international bekannte Köche von sich reden, die sich nicht immer wieder dem Bewertet-Werden aussetzen und deshalb sogar ihre Sterne "zurückgeben" wollten (was nach dem Michelin-Reglement so nicht möglich ist) - von Sébastien Bras aus dem südfranzösischen Laguiole, der seine drei Sterne 2017 ablehnte ("ich möchte nur noch von meinen Gästen beurteilt werden") bis zum Südkoreaner Eo Yun-gwon, der mit seinem Restaurant "Eo" in Seoul nun gegen seinen Willen wieder mit einem Stern im aktuellen Guide Michelin geführt wird.

Manche Köche wollen sogar ihre Sterne zurückgeben. Ganz so einfach ist das aber nicht

Martin Rehmann sah das damals anders. Bei ihm überwog die Freude, auch wenn er sich nach der Auszeichnung einen neuen Job suchen musste. Er entschied sich für die Selbständigkeit und gründete das "Rehmann" in Prien am Chiemsee, wo er fünf Jahre lang den Stern halten konnte. Seine Lebensgefährtin jedoch, zuständig für den Service, empfand die Ansprüche der Gourmetgäste zunehmend als Belastung, die von einem Sternerestaurant erwarten, dass es sich ständig weiterentwickelt. "Die wollen, dass das Lokal immer etwas Abgefahrenes bietet", sagt Rehmann. Dazu kamen Personalprobleme, sodass sich das Paar 2017 entschied, das Projekt zu beenden. Rehmann heuerte in einem Chiemgauer Gasthaus mit Ambition an, wo er aber nicht die versprochene Unterstützung fand, um den Stern zu halten. So traf er eines Tages die auch für ihn selbst überraschende Entscheidung für ein eigenes Wirtshaus. Schnitzel und Schweinsbraten? "Das hatte ich mir nie vorstellen können. Ich wollte immer 'schön kochen'. Aber diesmal stimmte alles: der Kompagnon, das Timing und vor allem das Objekt." Tatsächlich ist der "Rait'ner Wirt" in Schleching im Chiemgau so etwas wie ein bayerischer Bilderbuchgasthof. Vom Eigentümer, einem örtlichen Zimmermann und Restaurator, wurde das Haus, erstmals eröffnet 1864, vor wenigen Jahren liebevoll renoviert. Im ersten Stock richtete man Gästezimmer ein. Hier serviert Rehmann neben hausgemachten Kasspatz'n oder Schweinsbraten in Dunkelbiersauce auch so selten werdende Gerichte wie feinsäuerliches Kalbslüngerl mit herrlich flaumigen Markklößchen. Das Knochenmark bezieht er von einem Metzger in Aschau, einem von vielen Produzenten in der Region, mit denen der 36-Jährige über die Jahre ein Netzwerk aufbaute: "Gourmet bedeutet für mich heute nicht mehr hochgestochen und mit sogenannten Edelprodukten zu kochen, sondern es soll lecker sein." Rein geschmacklich schätzt er inzwischen Chiemgauer Saibling oder Forelle mehr als Steinbutt aus der Bretagne. "Ich muss in Bayern keinen Thunfisch servieren", findet Rehmann, der auch dem Rinderfilet abgeschworen hat: "Heute ist mir ein stundenlang geschmortes Ossobuco lieber."

Mit Kopfschütteln erinnert er sich an die Zeit, als er seinen Gästen überdrehte Trendprodukte wie Schneckenkaviar oder die von der Chemieindustrie entwickelten "Texturas" aus der sogenannten Molekularküche zumutete. Heute verzichtet er auf Schnickschnack: "Ich will meine Teller nicht mehr eine halbe Stunde lang anrichten, damit jedes tournierte Rübchen und jeder Saucentupfer seinen Platz hat." Seine Kunst hat Rehmann aber nicht verlernt, auf Vorbestellung schiebt er gerne eine Miéral-Ente aus der französischen Bresse ins Rohr und tranchiert sie am Tisch. Insgesamt sei er ruhiger geworden, sagt Rehmann: "Ich gehe auch nicht mehr gleich an die Decke, wenn in der Küche mal nicht alles so läuft, wie ich mir das vorstelle." Und wenn Gastroführer wie der Gault & Millau seine Küche heute niedriger bewerten als früher, dann ficht ihn das nicht an.

Ex-Sternekoch Martin Rehmann vor seinem Chiemgauer Wirtshaus. (Foto: N/A)

In Zeiten, da immer mehr Gäste sich von meist wenig fundierten Laien-Empfehlungen im Netz leiten lassen, empfinden gerade jüngere Köche die klassischen Auszeichnungen nicht mehr als allein seligmachend. Nathalie Dienstbach, ausgebildet im renommierten Hotel Traube Tonbach, gründete lieber mit ihrer Schwester ein französisches Bistro in ihrer Heimatstadt Wiesbaden, als in den Gourmetzirkus einzusteigen. Die Fernsehköchin Maria Groß, einst in Erfurt mit einem Stern ausgezeichnet, betreibt dort heute nach dem selbst gewählten Motto "Gerne ohne Sterne" das Ausflugslokal "Bachstelze". Und Johann Rappenglück verließ das Münchner Gourmetrestaurant "Les Deux", das er mit aufbaute, und tischt heute in der Tegernseer Traditionswirtschaft "Schlossbrennerei" Wiener Schnitzel und Kaiserschmarrn auf.

Für die Gäste ist der Besuch bei solchen "Aussteigern" besonders lohnend, weil sie dort vom Know-how aus der Spitzenküche profitieren, aber Wirtshauspreise bezahlen. "Mein Qualitätsmanagement hat sich nicht geändert, und ich kaufe nach wie vor Fische bei den Kochelseefischern und Käse vom Biohof", sagt etwa Thilo Bischoff, jahrelang im Murnauer Alpenhof mit einem Stern und 15 Gault & Millau-Punkten ausgezeichnet, bevor er in der Nähe die Gastwirtschaft "Ähndl" übernahm. Anfangs wurde er dort angefeindet, weil er sich weigerte, Schweinsbraten zu servieren: "Bei 600 Essen am Tag, die wir im Sommer aus der Küche schicken, kann ich das nicht in der Qualität bieten, die mir wichtig ist."

Lieber als warmgehaltenen und dadurch trockenen Schweinsbraten serviert er deshalb Schmorgerichte wie Rinderbacke und Wildgulasch oder auch mal einen Burger vom Murnau-Werdenfelser Rind. Und weil er eine nach Fett stinkende Fritteuse für seine Küche ablehnt, müssen Kinder zwar auf Pommes verzichten, bekommen dafür aber hausgemachte Spätzle oder Knödel. Im Sommer sitzt man draußen unter Bäumen und schaut über das Murnauer Moos. Und wenn zum gebratenen Forellenfilet auf Linguine à part im Kännchen eine zitronige Nussbutter serviert wird, dann weht auch durch diesen Biergarten ein Hauch von Sternenglanz.

Tausche Gourmetlokal am Ku'damm gegen Imbissbude in Schöneberg

Noch einen Schritt weiter ging der Berliner Felix Mielke. Er gab eine topausgestattete Hotelküche mit fünf Köchen gleich am Kurfürstendamm auf - für eine Imbissbude, wenn auch für eine schicke. Er kocht heute im Schöneberger Akazienkiez allein auf neun Quadratmetern: drei Herdplatten, Bunsenbrenner, Kombidämpfer - alles in Griffweite. Dabei hat der 34-Jährige, der sieben Jahre lang im Gourmetrestaurant "Le Faubourg" für 15 Gault & Millau-Punkte kochte, seinen kulinarischen Anspruch nicht aufgegeben. Sein "Schüsseldienst" avancierte binnen kürzester Zeit zum Geheimtipp, weil Mielke dank seines Wissens den Gästen Top-Qualität zu bezahlbaren Preisen bietet.

Noch einen Schritt weiter ging der Berliner Felix Mielke. Er gab eine topausgestattete Hotelküche mit fünf Köchen am Kurfürstendamm auf - für eine Imbissbude, wenn auch für eine schicke. Er kocht heute im Schöneberger Akazienkiez allein auf neun Quadratmetern: drei Herdplatten, Bunsenbrenner, Kombidämpfer - alles in Griffweite. Dabei hat der 34-Jährige, der sieben Jahre lang im Gourmetrestaurant "Le Faubourg" am Kurfürstendamm für 15 Gault & Millau-Punkte kochte, seinen kulinarischen Anspruch nicht aufgegeben. Sein "Schüsseldienst" avancierte binnen kürzester Zeit zum Geheimtipp, weil Mielke dank seines Wissens den Gästen Top-Qualität zu bezahlbaren Preisen bietet.

"Alle wollen vom Geflügel immer die Brust, dabei schmeckt das Keulenfleisch viel besser", erklärt er. Mielke serviert es als Pulled Chicken ("gezupfter Broiler") auf warmem Kichererbsenpüree, indisch mariniertem Blumenkohl, Schafskäse, Mandeln und Granatapfel, eine gourmettaugliche Kreation für 8,50 Euro. Wie auch Mielkes Rindfleischteller: "Es muss nicht immer Filet oder Rücken sein, weniger gefragte Teile wie Schulter oder Rippe bekommt man auch vom Top-Rind zu guten Preisen", sagt er. Letztere ist in Deutschland wenig gefragt, aber in den USA als Short Rib hoch gehandelt und wird zur Delikatesse, wenn Mielke sie mit Süßkartoffel, roter Zwiebel, Pilzen, Brokkoli und Chili auftischt.

Vermisst er Steinbutt und Wolfsbarsch, die Lieblingsfische der Hochküche? Mielke schüttelt nur den Kopf, während er einen Wels von der auch bei Top-Köchen beliebten Erzeugergemeinschaft der Müritzfischer aus Mecklenburg-Vorpommern auf die Grillpfanne legt, den er zuvor in asiatische Würzsaucen eingelegt hat: "Das ist ein tolles Produkt zum vernünftigen Preis und kommt noch dazu aus der Region." Der Fisch zählt zu den beliebtesten Gerichten auf den zehn Sitzplätzen, die der Schüsseldienst bietet, im Sommer kommen draußen noch einmal zehn dazu, anliegende Büros holen sich das Essen einfach ab. Zur Mittagszeit ist es eng, laut, voll, lustig - und schmeckt köstlich. Im April 2019 eröffnet, trug sich das Konzept schon nach vier Wochen: "Der finanzielle Erfolg übertrifft unsere Erwartungen bei Weitem", sagt Mielke, der mit seinem Cousin und Geschäftspartner schon über Filialen nachdenkt. Irgendwann, wer weiß, läuft die Imbisskette vielleicht so gut, dass er sich ein eigenes Gourmetrestaurant gönnen kann - der Traum vom Stern lässt einen ambitionierten Koch eben doch nie ganz los.

© SZ vom 25.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: