Design:Fliesender Übergang

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Gekachelte Wände sehen öde aus? Nicht in diesem Sommer. Die neuen Fliesen prunken mit Arabesken und graphischen Mustern.

Von Anne Goebel

Das hatte man fast schon vergessen vor lauter gekachelter Coolness: Fliesen können auch heiter aussehen, können auch Pracht und Ornament sein. Zwar kamen lange kein neues Szenerestaurant und keine urbane Bar ohne jene kühl weißen "Subway Tiles" aus, die Metzgerei- oder U-Bahn-Assoziationen herstellen und die Atmosphäre auf keinen Fall irgendwie anheimelnd wirken lassen sollten. Jetzt aber wird gerade wiederentdeckt, wie viel mehr Möglichkeiten die Wand- und Bodenplatten im Interior-Design bieten, und wie wunderbar sich mit ihnen Fernweh inszenieren lässt - mit verschnörkelten Azulejos aus Portugal zum Beispiel oder traditioneller Keramik mit orientalischem Blätterwerk. Man muss es ja nicht so weit treiben wie im Londoner Club The Drift, wo Fliesenteppiche durch alle Räume mäandern, aber auch das Berliner Restaurant Kantine Kohlmann setzt auf eine edel wirkende Mischung aus Holz, Leder und bunten Kacheln. Und in der Münchner Bar Kismet sehen die smaragdgrün glasierten Wände viel mehr nach morgenländischer Üppigkeit aus als nach aseptischem OP-Interieur. Zum Glück.

Von der Spanierin Patricia Urquiola bis zu dem Niederländer Marcel Wanders reiten zahlreiche Designer mit ihren Kachelentwürfen auf der Orientwelle, die eine britische Zeitschrift ihren Lesern etwas überschießend als "Marrakech excess" empfiehlt. Kein Wunder jedenfalls, dass schöne Fliesen gerade im Sommer Fernweh wecken. Ihre glatte Oberfläche suggeriert angenehme Kühle, einen anachronistischen Hauch Kolonialluxus in warmer, exotischer Umgebung. "Beyond beige" hat ein amerikanischer Interior-Fachmann über die neue Vielfalt geschrieben, und mit Beige ist auch die Einfallslosigkeit der Durchschnittsware von Praktiker oder dem US-Pendant Home Depot gemeint. Unverwüstlich und bloß nichts, woran man sich sattsehen könnte: das waren eherne Kriterien für wasserdichte Duschwände, fettresistente Küchenzeilen - dagegen steht nun das dekorative Alphabet von "Arabesque" bis zu "Zellige", marokkanischer Terracotta.

Gemusterte Fliesen verändern Räume auf erstaunlich simple Weise, und das dürfte ihren Erfolg mit ausmachen. Wer seine Wände mit den Pflanzenranken der New Yorker Firma Amethyst Artisan schmückt, holt sich Hamam-Flair ins noch so kleine Badezimmer. Patricia Urquiola hat für den Hersteller Mutina Kacheln in Meerwasserblau entworfen - damit bekommt selbst die Einbauküche plötzlich etwas von einer südländischen Markthalle. Dass Fliesen Geschichten erzählen, ist nichts Neues. Die Keramik osmanischer Moscheen zierten oft Schriftzeichen und Verse. Auf Azulejos, den spanischen und portugiesischen Fliesen, verewigte man ganze Legenden. Gerade die Verbindung von detailversponnener Malerei und bodenständigem Brennen im Ofen hat Fliesen für Künstler immer reizvoll gemacht. Und noch etwas ist faszinierend: Zierkacheln scheinen weder dem Außen noch dem Innen ganz zugehörig. Im geschlossenen Raum lässt eine Wand mit Arabesken sofort an Gärten mit plätschernden Bassins denken. Draußen im Freien dagegen wirken bemalte Fliesen, etwa an den Keramikbänken im Lissabonner Park Quinta dos Azulejos, irritierend wohnlich.

Es geht auch um die Kunst des schönen Scheins, die beherrschte der in Brasilien verehrte Mosaikkünstler Athos Bulcão virtuos. In Zusammenarbeit mit dem Architekten Oscar Niemeyer schuf Bulcão flimmernde Reliefs und riesige Bilderwelten aus knallig bunten Fliesen. Und ein wenig Täuschung ist beim aktuellen Boom geometrischer Kachelmuster ebenfalls im Spiel. Das gilt für Urquiolas Pseudo-3-D-Dekor genauso wie für Sam Allen. Der junge amerikanische Designer ist einer der vielen, die auf "tiles" im Edel-Ethnolook setzen. Was dann an den Wänden seiner Kunden orientalisch wirkt, sagt Allen, stammt in Wahrheit gar nicht von weit her. "Aber solche Fliesen sehen einfach nach Globetrotter aus."

© SZ vom 08.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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