Dem Geheimnis auf der Spur:Dichter auf Abwegen

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Heinrich von Kleist ist verliebt, er will heiraten. Doch dann bricht er auf zu einer Reise, deren Gründe bis heute im Dunkeln liegen.

Von Jens Bisky

Im Sommer des Jahres 1800 bricht Heinrich von Kleist das Studium in seiner Geburtsstadt Frankfurt an der Oder ab, eilt nach Berlin und schreibt seiner Halbschwester Ulrike, der neben Penthesilea und Käthchen wichtigsten Frau seines Lebens, dass er ihr die Wahrheit verschweigen müsse. Es sei "nothwendig, nothwendig", den Zweck der scheinbar abenteuerlichen Reise, die er nun unternehmen werde, zu verheimlichen. Wilhelmine von Zenge, mit der er seit Kurzem verlobt war, erfährt in einem zärtlichen Brief, Wichtiges stehe auf dem Spiel, es gehe dabei so gut um ihr Glück wie um seines, vielleicht mehr noch um das ihre. Der Zweiundzwanzigjährige ermahnt die Braut, sie dürfe ihr Versprechen nicht vergessen: "unwandelbares Vertrauen in meine Liebe zu Dir, und Ruhe über die Zukunft".

Am 11. September 1800 schreibt Heinrich von Kleist vergnügt an sein "liebstes Herzensmädchen"

Was ist in ihn gefahren? Warum verreist er? Und mit welcher sorgsam verborgenen Absicht? Bis heute lässt sich das nur vermuten. Aber Kleist gehört zu den Dichtern, über die man alles wissen will und vieles wissen muss, will man nicht auf Zerrbilder, Klischees hereinfallen oder auf die Rollenbilder, die er von sich selbst entwarf. Zunächst fährt er nach Pasewalk, seinen Freund Ludwig von Brockes zu treffen, der ihn auf seinem Abenteuer begleiten soll. Ende August spricht Kleist noch mit einem hohen Beamten in Berlin; am 28. brechen sie gen Süden auf, sie wollen nach Wien. In Leipzig immatrikulieren sich die Freunde als Klingstedt und Bernhoff an der Universität. Nächste Station ist Dresden, wo sie vom englischen Gesandten neue Pässe zu erhalten hoffen. Das schlägt fehl; sie ändern ihr Reiseziel: Straßburg oder Würzburg, noch ist es unentschieden. Am 11. September 1800 schreibt Kleist vergnügt aus Würzburg an sein "liebstes Herzensmädchen". Sie bleiben in der Stadt, die eine Belagerung durch französische Truppen erwartet. Erst am 22.10. beginnt die eilige Rückreise nach Berlin. Was hatten sie in Würzburg gewollt?

Der Grafeneckart, ältester Teil des Würzburger Rathauses (ganz rechts), ist ein Teil der Würzburger Stadtsilhouette - aber beileibe nicht deren höchster. (Foto: David Ebener/dpa)

Wir wissen aus den Briefen, was sie sahen, wir sind über viele Einzelheiten gut informiert, aber die Details fügen sich nicht zu einer schlüssigen Geschichte. Das Rätsel der "Würzburger Reise", die besser Reise der verschleierten Zwecke hieße, haben Kleist-Forscher seit Jahrzehnten zu lösen versucht. Da Heinrich von Kleist die Generalstochter Wilhelmine von Zenge hartnäckig zur Verlobung gedrängt und die Freuden des Ehestandes mit leidenschaftlicher Pedanterie ausgemalt hatte, liegt die Vermutung nahe, er habe etwas unternommen, um bald heiraten zu können. Möglicherweise standen dem gesundheitliche Probleme im Wege, Impotenz oder eine Phimose? Aber zur Behandlung einer Vorhautverengung hätte er doch in Berlin einen Arzt aufsuchen können, ohne mehrere Hundert Taler Reisekosten aufbringen zu müssen, Geld, das er nicht besaß. Einst werde es, schrieb er Ulrike von Kleist, sein Stolz und seine Freude sein, den Reisezweck mitzuteilen. Tatsächlicher Aufwand und Verschleierungsrhetorik wären selbst für den unaussprechlichen, oft übertreibenden Kleist unangemessen, wäre es um eine Phimose oder andere Hemmungen des Sexualapparats gegangen. Und dass er unter dergleichen litt, ist unbewiesen.

Sicher ist, dass es Kleist an Mitteln fehlte. Er verfügte weder über ein ausreichendes Vermögen noch über Einkünfte, die ein standesgemäßes Leben ermöglicht hätten. Er brauchte eine Stellung, sonst würden Wilhelmines Eltern einer Heirat nie zustimmen. Er könnte also versucht haben, sich auszubilden oder für ein Amt zu empfehlen. Vor der Reise hat er im Ministerium für Akzise-, Zoll-, Kommerzial- und Fabrikwesen vorgesprochen. Ging es um Industriespionage? Dann wäre die Notwendigkeit der Geheimhaltung erklärt, auch hat Eberhard Siebert ermittelt, dass sowohl in Wien als auch in Würzburg für Preußens Textilindustrie nützliche Verfahren des Färbens und Bleichens hätten ausgekundschaftet werden können.

War Kleist wegen der Rezeptur des Pickelgrüns in Würzburg? Die Spionagehypothese hat vieles für sich, nur passt sie nicht zum damals sittenstrengen Kleist, der Lügen verabscheute und versicherte, seine Zwecke seien "der Verehrung jedes edeln Menschen werth".

Wollte er im Glücksspiel gewinnen, sich mit einer Verteidigungsschrift den Freimaurern empfehlen, sich in Würzburg habilitieren? Überzeugen konnte bis heute keine der mit viel Spürsinn entwickelten Hypothesen. Gab es überhaupt ein Geheimnis? Vielleicht hat Kleist Braut und Verwandtschaft lediglich in die Irre geführt, um sich eine Auszeit zu gönnen - selbstverständlich mit einem Freund. Vielleicht ahnte er, dass der Lebensplan, von dem er so gern sprach, nicht weit trug, dass seine Bestimmung nicht darin bestand, Beamter und Ehemann zu werden. Und doch reizte ihn diese Aussicht immer wieder. Die Spannung zwischen Wunsch und Einsicht, der Riss im Inneren, trieb hinaus, lockte auf Reisen. Hat Kleist den Zweck des Abenteuers auch vor sich selbst verheimlicht?

Während der Reise schrieb er einige seiner schönsten Briefe; nach der Rückkehr erinnert er sich an einen Spaziergang "an jenem Abend vor dem wichtigsten Tage meines Lebens in Würzburg". Die Sonne sank, auch sein Glück schien unterzugehen, er ging durch ein gewölbtes Tor: "Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen . . . " Das Bild wird er in der "Penthesilea" verwenden. Ob er am "wichtigsten Tag" die Pickelgrün-Rezeptur erhielt, Professoren, Freimaurer oder einen Arzt traf - er wurde während der Reise dem Kleist ähnlicher, dem wir Penthesilea, Käthchen, Kohlhaas verdanken. Ein bleibendes Rätsel.

© SZ vom 11.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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