Dem Geheimnis auf der Spur:Der Vogelmensch

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Dämon, Gott, Verführer: Seit Jahrtausenden spukt dieses mysteriöse Fabelwesen durch die Vorstellungswelt der Menschen.

Von Nicolas Freund

In der neuesten Staffel der amerikanischen Krimiserie "True Detective" wird Colin Farrell als abgehalfterter Ermittler von einem Vogelmenschen niedergeschossen. Farrells Figur überlebt die unheimliche Begegnung, und der Vogelmensch ist nur ein maskierter Gangster, aber der eigenartige Überfall wirft nicht nur die Frage nach der Identität des Schützen auf, sondern auch die, warum er sein Gesicht ausgerechnet hinter einer grotesken Vogelmaske verbirgt. Die Serie lässt dieses Rätsel, wie viele andere, offen. Ein paar kleine Hinweise gibt sie aber: Im Sprechzimmer eines abgedrehten Schönheitschirurgen hängt ein Bild wie von Max Ernst, und eine Verdächtige erwischen die Ermittler, wie sie vor einem mit Papierschnipseln übersäten Tisch Collagen zusammenbastelt.

Die seltsame Figur stellt jungen Frauen nach, prügelt sich und versucht, in Käfige einzubrechen

Der Surrealist Max Ernst veröffentlichte 1934 den Collagenroman "Une semaine de bonté" (etwa: "Eine Woche der Güte"), in dem viele Mischwesen aus Mensch und Tier merkwürdige Dinge tun. Ein Löwenmensch jagt Frauen und fährt mit der Eisenbahn. Sehr viele Schlafzimmer werden aus unerklärlichen Gründen überflutet. Im vierten Teil des Bilderromans tritt schließlich Loplop auf, eine Gestalt, mit Menschenkörper und Vogelkopf, die immer etwas anders aussieht, was der Form der Collage geschuldet ist. Der Vogelmensch stellt jungen Frauen nach, gerät in Prügeleien und versucht, in Käfige und Gefängnisse einzubrechen.

Der Königsgott Horus (re.), den die alten Ägypter verehrten, gehört zu den bekanntesten Mischwesen aus Mensch und Vogel. (Foto: mauritius images)

Auch in vielen Gemälden Max Ernsts taucht Loplop auf, den er auch manchmal den Vogeloberen Hornebom oder Schnabelmax nennt. Häufig ist sein Körper der eines Vogels, in dem aber ein menschlicher Geist zu wohnen scheint, wie in dem Bild "Nach uns die Mutterschaft" von 1927, auf dem ein Vogel ein Junges wie ein Baby im Arm trägt oder in "Der keusche Joseph" von 1928, das zwei küssende Vogelwesen zeigt. Ernst selbst hat über seine Vogelfiguren geschrieben: "Der Schnabelmax steckt sein Weltbild unter den Arm hebt es lächelnd in die Höhe er schlägt es auf er klappt es zu und legt es auf den Welttisch zur gefälligen Betrachtung." Wie es die eigenwillige Grammatik schon nahelegt, ist der Vogelmensch eine Figur, die sich selbst widerspricht, indem sie gleichzeitig Tier und Mensch ist, oder indem sie sich, wie in den Collagen aus "Une semaine de bonté", gelegentlich selbst einsperren will.

Ob die amerikanischen Serienmacher der Gegenwart eine ähnlich ungreifbare Figur erschaffen wollten? Mit dem Vogelmenschen haben sie sich, gewollt oder nicht, in eine lange Motivkette eingereiht. Die Surrealisten beriefen sich auf die Psychoanalyse Sigmund Freuds, und auch der schrieb schon Jahrzehnte früher von den unheimlichen Mischwesen. In einem der vielen Beispielträume aus seiner "Traumdeutung" von 1900 beschreibt er, wie "die geliebte Mutter mit eigentümlich ruhigem, schlafendem Gesichtsausdruck, von zwei (oder drei) Personen mit Vogelschnäbeln ins Zimmer getragen und aufs Bett gelegt wird". Als Kind habe er diesen Albtraum gehabt, 30 Jahre später deutete er ihn als Angsttraum vor dem Tod der Mutter, aber auch vor einer erwachenden Sexualität. Das Bild der Menschen mit Vogelkopf stammte aus der ägyptischen Mythologie: "Ich glaube, es waren Götter mit Sperberköpfen von einem ägyptischen Grabrelief." Der Traum ist so bekannt, dass auf dem Titelbild vieler Ausgaben ein solcher ägyptischer Gott abgebildet ist.

Jagdunfall oder Mythos? Die Höhlenmalerei von Lascaux gibt bis heute Rätsel auf. (Foto: Mira Oberman/AFP)

Die altägyptischen Götter Horus und Ra sind die bekanntesten Mischwesen aus Mensch und Vogel, aber in fast jeder Kultur und Epoche der Menschheitsgeschichte lassen sie sich finden, von den Gemälden Hieronymus Boschs um 1500, in denen sie dämonische Züge tragen, bis zu den Ureinwohnern Nordamerikas, die glaubten, ein göttlicher Vogel oder ein Vogelmensch hole die Seelen der Toten ab. So beliebt war die Figur durch die Jahrhunderte und auf allen Kontinenten, dass sie manchmal sogar nachträglich hinzugedichtet wurde. So werden die verführerischen Sirenen aus Homers "Odyssee" fast immer als Vögel mit Menschenköpfen oder Menschen mit Flügeln dargestellt. Die Sirenen werden in dem Epos mehrmals erwähnt - aber nie als Mischwesen aus Mensch und Tier beschrieben.

Vielleicht ist es den Illustratoren der folgenden Jahrhunderte aber aus verschiedenen Gründen schlüssig erschienen, die Sirenen als Vogelmenschen darzustellen. Gemein ist diesen Wesen, stammen sie auch aus noch so verschiedenen Kulturkreisen, dass sie eine Schwelle markieren. Oft die zwischen Leben und Tod, aber auch zwischen Mensch und Tier oder zum Erwachsenwerden. Sie sind oft nicht greifbar, manchmal, weil sich ihre tierische Mimik nicht lesen lässt wie die eines Menschen, was ihnen in vielen Fällen einen unheimlichen Zug verleiht. Wie die ägyptischen Götter stehen sie aber auch für etwas außerhalb der erfahrbaren Lebenswelt. Horus und Ra sind weder Mensch noch Tier, sondern etwas Drittes. Der Vogelmensch scheint für menschlich universelle Wahrnehmungen und Erfahrungen zu stehen, auch wenn diese nicht immer ganz einfach zu verstehen sind.

Wie im Falle eines der ältesten bekannten Bilder eines Vogelmenschen in einer Höhle im südwestfranzösischen Lascaux: Die mehr als 15 000 Jahre alte Malerei zeigt ein Wesen mit dem Körper eines Menschen und dem Kopf eines Vogels, das gegen einen Büffel zu kämpfen scheint. Daneben sitzt ein Vogel auf einem langen Stab. Handelt es sich um die Darstellung einer mythologischen Figur? Oder zeigt die Szene den Tod eines Jägers? Aber warum der Vogelkopf? Seit der Entdeckung der Höhle wird über die Interpretation der Malerei gestritten, deren Bedeutung in den Jahrtausenden verloren gegangen ist.

© SZ vom 10.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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