Dem Geheimnis auf der Spur:Das Dorf des Columbus

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Was mit "La Navidad", der ersten europäischen Ansiedlung in Amerika, genau geschehen ist, bleibt bis heute mysteriös.

Von Nicolas Freund

Es muss ihm wie eine Niederlage erschienen sein. Bereits Tage zuvor waren seine Männer im Urwald auf vier Leichen gestoßen, eine davon mit Vollbart - ein sicheres Zeichen, dass es sich bei dem Toten um einen Europäer handeln musste, denn die Eingeborenen dieser Inseln haben keinen Bartwuchs. Anderntags kam ein Kanu der Insulaner längsseits des großen Flaggschiffs. Die Kanufahrer berichteten, die Europäer auf der Insel hätten unter schweren Krankheiten gelitten, einige sollen sich gegenseitig erschlagen haben. Der Admiral will ihnen nicht glauben. Bis schließlich seine eigenen Männer von den Landgängen zurückkehren und ebenfalls berichten, sie hätten ein zerstörtes und abgebranntes Fort gefunden. Nun ist es Gewissheit: La Navidad, die erste europäische Siedlung in der neuen Welt, von Christoph Kolumbus auf seiner ersten Entdeckungsreise gegründet, ist kläglich gescheitert. Was war geschehen?

Im Jahr zuvor, 1492, war Kolumbus mit drei Schiffen, der Niña, der Pinta und der Santa Maria, von Spanien aus aufgebrochen, um den Seeweg nach Indien zu finden. Bekanntlich sind ihm dabei die karibischen Inseln in die Quere gekommen. Monatelang kreuzte die kleine Flotte durch den Archipel, vor allem auf der Suche nach Gold oder wenigstens wertvollen Gewürzen. Denn die teure, gefährliche Reise wollte gerechtfertigt sein.

Eines Abends kommt es zu einem Unglück. "Unserem Herrn gefiel es, dass um Mitternacht, als ich zu Bett gegangen war, völlige Windstille herrschte und das Meer glatt wie Öl dalag, alle sich zur Ruhe niederlegten und das Steuerruder einem Schiffsjungen anvertrauten", schreibt Kolumbus ins Bordbuch. Es ist Weihnachten und der Entdecker scheint die kleine Flotte in der Bucht in Sicherheit zu wähnen. Aber der Schiffsjunge, dem die Übernahme des Ruders zuvor während der gesamten Reise strengstens untersagt war, hat keine Erfahrung darin, an leichten Wellen eine Untiefe zu erkennen. Prompt läuft das Schiff auf Grund und schlägt leck. Die akute Gefahr des Kenterns oder gar Sinkens ist schnell gebannt - aber die Santa Maria ist verloren. Zu viel Wasser ist in den Rumpf eingedrungen. Mit Hilfe der Eingeborenen gelingt es rasch, die Ladung zu löschen und die Besatzung auf die Insel überzusetzen.

Kolumbus entschließt sich, aus dem Wrack der "Santa Maria" ein Fort mit Wachturm zu bauen

Kolumbus steht vor einem großen Problem: Ihm bleibt nur ein Schiff, die Karavelle Niña, denn die Pinta hatte sich schon vor Tagen unerlaubt entfernt und ward seitdem nicht mehr gesehen. Kolumbus befürchtet, dass der schon die ganze Reise zur Insubordination neigende Kapitän sich auf eigene Faust auf die Suche nach Gold gemacht haben könnte. Oder noch schlimmer: Dass er nach Spanien eilt, um die Entdeckung der neuen Welt für sich zu reklamieren. Denn viel mehr als die Entdeckung dieser Inseln hat er nicht vorzuweisen. Gold haben die Seefahrer zwar gefunden, jedoch nicht in nennenswerten Mengen.

Der Entdecker entschließt sich daher, aus dem Wrack der Santa Maria ein Fort und einen Wachturm zu bauen. 39 seiner Männer sollen auf der Insel nach Gold suchen und Kontakte zu den Eingeborenen pflegen. Gleich drei der Männer bestimmt er zu Anführern der neuen Kolonie, die er nach dem Abend des Unglücks tauft: la Navidad - Weihnachten.

Der Schiffbruch erscheint ihm nun schon nicht mehr als Katastrophe, denn mit der Gründung einer Kolonie kann er vor den spanischen Herrschern einen weiteren Erfolg nachweisen. Bald stößt auch die Pinta wieder zur verbliebenen Niña. Nach einem heftigen Streit der Kapitäne beschließt man, fortan wieder zusammenzuarbeiten und macht sich auf die Rückreise nach Europa.

Im Herbst 1493 kehrt Kolumbus, inzwischen Admiral, mit 17 Schiffen in die Neue Welt zurück. Mit ihm kommen nicht nur Seeleute und Handwerker, sondern auch viele Adlige und Höflinge, die keine Gelegenheit verpassen wollen, an den vermeintlichen Reichtümern dieses Paradieses teilzuhaben. Vor dieser Gesellschaft darf Kolumbus keine Schwächen zeigen. La Navidad erweist sich jetzt aber, anders als erwartet, als Unglücksort. Nach den Berichten der Insulaner sieht es so aus, als habe die Entscheidung, drei Anführer einzusetzen, zum Scheitern der Kolonie geführt. Dazu hatte Kolumbus gehofft, dass die Kolonisten inzwischen die Sprache der Indianer so weit gelernt hätten, dass sie als Dolmetscher fungieren könnten. Von den Eingeborenen, die Kolumbus zu diesem Zweck mit nach Europa gebracht hatte, überlebten nur drei die Hin- und Rückfahrt, und zwei von diesen waren, sobald die ersten Karibikinseln in Sicht gekommen waren, bei Nacht ins Meer gesprungen und an Land geschwommen. Die paradiesischen Inseln, die Kolumbus in seinem Bordbuch beschworen hatte, scheinen für Europäer viele tödliche Gefahren bereit zu halten. Jetzt muss er, um vor den Höflingen das Gesicht zu wahren, herausfinden, was in den Monaten der Abwesenheit in der Kolonie geschehen ist.

Die Eingeborenen nämlich, deren Dorf auf der Insel auch zerstört worden war, berichten, die Europäer von La Navidad seien untereinander in Streit geraten und hätten angefangen, sich zu bekämpfen. Auch von Krankheiten ist die Rede. Andere behaupten, die Insel sei vom Stamm der Kariben, angeblich Kannibalen, überfallen worden. Trotz Nachforschungen war von den Eingeborenen nie zu erfahren, was genau sich auf der Insel zugetragen hatte.

Die Romanistin und Kolumbus-Expertin Frauke Gewecke geht von einer Mischung aller kursierenden Theorien aus. Ein Teil der Männer tötete sich wohl gegenseitig im Streit um das Gold. Der erste Mord soll der an einem gewissen Jakob gewesen sein, der das Goldlager bewachte. Der Rest fiel vermutlich einem Indianerüberfall zum Opfer - ob von den berüchtigten Kariben oder doch von ihren eigentlich als Freunde betrachteten Nachbarn, ist nie geklärt worden.

Bis heute ein Geheimnis ist auch die genaue Lage der Siedlung. Mit Sicherheit lässt sich nur sagen, dass sie an der Nordküste der Insel Hispaniola gelegen haben muss. Trotz intensiver Bemühungen, besonders durch die University of Florida in den Achtzigerjahren, konnte aber bisher weder der Ort der Kolonie, noch des Indianerdorfes bestimmt werden. Neben den Aufzeichnungen von Christoph Kolumbus sind ein paar Scherben aus venezianischem Glas und Tierknochen der einzige verbliebene Hinweis auf die erste europäische Siedlung in der Neuen Welt.

© SZ vom 17.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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