WM:Das geht auf keine grüne Kuhhaut

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Acht Gründe, warum die WM noch den gewissen Kick braucht - und die Schweiz einen neuen Wilhelm Tell.

Christian Zaschke

Was bisher fehlt bei dieser WM: das ganz große Spiel, das in Erinnerung bleiben wird. Das Spiel, das man einen Klassiker nennen wird. Zu früh ist es dazu nicht, man denke - um nur ein Beispiel zu nennen - an die Achtelfinalbegegnung zwischen Deutschland und den Niederlanden bei der WM 1990 in Italien; da war alles drin, was zu einem großen Spiel gehört.

Die Dinge geschehen, wie man weiß, nicht ohne Grund, und deshalb wird im Folgenden erörtert, was hinter dem bisherigen Fehlen des Klassikers steckt.

Die Niederlande haben eine ernsthafte Stürmerkrise.

Man könnte ebenso gut sagen: In Frankreich schmecken die Croissants nicht, in Italien wird herzerfrischender, sauberer Fußball gespielt und in England werden keine Lieder über die deutsche Luftwaffe gesungen.

Diese Behauptungen sind absurd. Dass die Niederlande über exzellente Stürmer verfügen, zählt zu den Nationenklischees, die einfach wahr sind und es deshalb überhaupt erst ermöglichen, sich in der komplizierten Welt zurechtzufinden.

Geh' nach Frankreich, das Croissant wird köstlich sein. Geh' nach Italien, schau Dir ein Fußballspiel an und erfreue Dich am Zeitspiel, an den Schwalben und den Schiedsrichtern (scherzhaft auch: den Unparteiischen).

Geh' nach England, sag', dass Du Deutscher bist, und lausche dem Klang des Liedes "There were ten German bombers in the air" (es ist ein recht langes Lied, an dessen Ende keine deutschen Bomber mehr in der Luft sind, was wiederum mit der englischen Luftwaffe zu tun hat).

Geh' nach Holland, und siehe, dass es mehr Klassestürmer gibt als - nun ja - Käsesorten. Wenn die Niederlande eine Stürmerkrise haben, dann haben sich die Koordinaten der Welt verschoben. Keine Verschwörungstheorie jetzt, aber interessant, dass der Trainer, Marco van Basten, einer der besten Stürmer der Welt war, oder?

Die Angst der Afrikaner vor dem Tor

Das Publikum in Dortmund stöhnte, als die Ghanaer wieder einmal eine Chance ausgelassen hatten. Gegen Brasilien. Wer bekommt schon so viele Chancen gegen Brasilien? Allenfalls die zweite Mannschaft von Brasilien.

Wenn Ghana also so gut spielt wie die zweite Mannschaft von Brasilien, stellt es dann nicht die zweitbeste Mannschaft im Turnier? Die Antwort ist: leider nein, und warum nicht, ist auch klar, wie man so sagt: fehlender Killerinstinkt.

Wer keine Tore schießt, fliegt raus. Nun ist es prinzipiell natürlich sympathisch, wenn jemandem der Killerinstinkt fehlt. Aber da ist im Fußball nichts zu machen, irgendwer muss die Tore schießen. Eines Tages wird sie kommen, die afrikanische Mannschaft mit drei Torjägern. Und die wird vielleicht so gut spielen wie die erste Mannschaft von Brasilien. Vielleicht spielt sie sogar besser.

England hat die Hässlichkeit entdeckt

Natürlich kannte das Land die Hässlichkeit bereits, wie jeder weiß, der je beim Frühstück in England vor einem Arrangement aus Bohnen und Toast und verbrannten Tomaten saß oder still darüber sinnierte, dass die Kombination aus hässlicher Tapete und hässlichem Teppich im englischen Badezimmer eine ganz neue Dimension des Hässlichen eröffnet.

Aber der Fußball, der war immer aufregend. Früher gab es Kick & Rush, nicht schön, aber toll, und heute gibt es in der Premier League Tempofußball erster Güte, gegen den Bundesliga oft wirkt wie eine buddhistische Meditation.

Dazu kommt, dass die englische Nationalmannschaft mit Kämpfern wie John Terry besetzt ist, Kunstschützen wie David Beckham, Strategen wie Frank Lampard, Kanonieren wie Steven Gerrard. Was müssten die für einen Fußball spielen? Und was spielen sie für einen Fußball?

Es gab immer wieder englische Mannschaften, die nicht besonders gut spielten, aber so uninspiriert, bieder und langweilig, so hässlich hat schon lange keine mehr gespielt. Da das Team auf diese Weise mühelos bis ins Viertelfinale vorgestoßen ist, haben die Spieler die Hässlichkeit als Mittel zum Erfolg entdeckt. Was wieder einmal beweist, dass nicht jede Entdeckung ein Fortschritt ist.

Die Angst der Schweizer vorm Elfmeter

Ein wenig verwunderlich ist das schon. Man denke: Wilhelm Tell, der Mann, der nicht nur seinem Sohn einen Apfel vom Kopfe schoss, sondern später auch den Landvogt Gessler in der hohlen Gasse bei Küssnacht mit einem gezielten Schuss niederstreckte - er war Schweizer, Vorzeigeschweizer bis heute.

Da müsste man doch denken, das liegt dem Schweizer, so ein gezielter Schuss. Doch offenbar liegt nichts dem Schweizer ferner. Das Spiel gegen die Ukraine war zudem so schlecht, dass beide Teams hätten ausscheiden sollen, also: beide alle Elfmeter verschießen, bis einer kommt und sagt: So geht das nicht, ihr fahrt jetzt beide heim. Vielleicht wäre das für alle das beste gewesen, und eine Art Klassiker wär's auch geworden.

Die Schiedsrichter. Die Linienrichter.

Wie trügerisch der Friede war. In der ersten Turnierwoche sprach niemand über die Schiedsrichter. Sie begingen keine Fehler, und es bestand Anlass zu der Hoffnung, es könnte eine WM der guten Schiedsrichterleistungen werden.

Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Auffallend ist zudem, wie oft die Linienrichter bei Abseitsentscheidungen falsch liegen. Mal erkennen sie es nicht direkt vor ihren Augen, mal sehen sie es, wo keins ist (Man bemerkt: "Abseits" ist im Leben der Linienrichter in etwa das, was "Glück" im Leben der übrigen Menschen ist).

Erinnert sei an dieser Stelle an einen Dortmunder Fanreporter, der eine Abseitsentscheidung am Mikrofon mit den erregt vorgetragenen Worten kommentierte: "Der steht nicht im Abseits! Du blinder Linienrichter! Du Blindmann! Verdammt noch mal. Das geht auf keine grüne Kuhhaut mehr, was dieser Erpel, Greipel oder wie auch immer der heißt, sich da zusammenpfeift!"

Auch bei dieser WM ist die grüne Kuhhaut bereits voll. Bezeichnend erscheint ferner, dass das bisher aufregendste WM-Spiel die Partie Portugals gegen die Niederlande war - es war das Spiel des Schiedsrichters Walentin Iwanow, der achtmal Gelb zeigte und viermal Gelb-Rot.

Die Brasilianer tun nur, was sie müssen

Kein Vorwurf. Nur eine Feststellung. Und wer jetzt einen Zusammenhang zwischen guten Pferden, deren Sprunghöhe und dem brasilianischen Team herstellen will, dem sei das natürlich gestattet.

Aber würde man nicht allzu gerne einmal sehen, wie diese Mannschaft gefordert wird und sich in einen Rausch spielt? Aber vermutlich wissen die Brasilianer: kein Rausch ohne Kater.

Wo sind die Fallrückziehertore?

Zugegeben, die Qualität einer WM lässt sich nicht an der Zahl der Fallrückzieher ablesen. Im Grunde sagen Fallrückzieher gar nichts über das Spiel. Sie sind schwierig zu spielen, der Schütze landet nach dem Schuss unsanft auf dem Rücken, er kann nicht vernünftig zielen, und ob der Ball ins Tor geht oder nicht, ist Glückssache.

Vor allen Dingen aber kann man sich beim Fallrückzieher ziemlich lächerlich machen, wenn man ein schönes Loch in die Luft tritt, dann unsanft auf dem Rücken landet, während der Ball einfach weiterfliegt, als sei nichts gewesen.

Kurzum, es wäre sinnvoll, auf den Fallrückzieher zu verzichten. Hier aber sei das Gegenteil gefordert und allen Spielern zugerufen: Probiert es, legt euch in die Luft, denn der Fallrückzieher mag schwierig und gefährlich und überflüssig sein, doch er ist der Karneval des Spiels.

Gescheitert? Macht nichts!

Gab es das schon einmal: So viele Verlierer, die nicht wütend, tieftraurig oder wenigstens apathisch das Turnier verlassen haben?

Die Australier: stolz. Die Ghanaer: stolz. Trinidad & Tobago: erheitert. Ecuador: stolz. Und immer so weiter. Sie sind zufrieden mit dem Erreichten und wärmen sich am Gedanken an das, was möglich gewesen wäre. Aber die Tschechen, wäre nun einzuwenden, die waren doch so traurig, dass einem beim Anblick die Brust eng wurde.

Die Tschechen sind hier auszunehmen, denn die Tschechen leben die Niederlage aus wie den Sieg; sie kosten beide bis zum letzten aus, und beide liegen ihnen gleichermaßen nahe. Ganz sympathisch, besonders, weil das extreme Gefühl in beiden Fällen nicht so lange anhält. Mit einem Tschechen lässt sich allerdings ein Problem der fröhlichen Gescheiterten erklären: Der Autor Zdenek Jirotka teilt in seinem Roman "Saturnin" die Menschen in drei Gruppen. Die erste schaut einfach auf die Schüssel mit Krapfen, die vor ihr steht. Die zweite denkt daran, wie es wohl wäre, die Krapfen jetzt zu nehmen und auf die Umsitzenden zu werfen. Die dritte Gruppe nimmt die Krapfen und wirft.

Es fehlte all den glücklich Gescheiterten der Mut, zur dritten Gruppe zu gehören. Die Krapfen nehmen und werfen, das wär's gewesen.

© SZ vom 29.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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