WM 2018:Sie können sich wieder setzen

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Für Präsident Putin erhebt sich die Fußballfamilie von ihren Sesseln - und ignoriert gern all die Problemfelder rund um das Turnier in Russland. Der Nationaltrainer warnt vor Optimismus, trotz der leichtesten Gegner.

Von Julian Hans, Moskau

Das Geheule in der Stadt war groß, schon Stunden bevor die Auslosung der WM-Gruppen überhaupt begonnen hatte. Lange waren nicht mehr so viele prominente Gäste gleichzeitig zu Besuch in der russischen Hauptstadt, und die mussten nun alle durch den Feierabend- Verkehr zum Kreml gebracht werden. Trainer von 32 Mannschaften, dazu Cafu, Pelé, Maradona und viele weitere Alt-Stars. Der Fifa-Präsident. Alle in schwarzen Limousinen, begleitet mit Blaulicht und Sirene.

Von der akustischen Belästigung abgesehen, hätte der Tag für Russland aber kaum besser laufen können. Für ein paar Stunden schaut die Welt mal nicht mit vorwurfsvollem Blick auf Moskau, sondern mit gespannter Vorfreude. Sie sieht Kuppeln im Schneegestöber, Kasatschok-Tänze und einen Gastgeber, der alle als Freunde begrüßt. Ein Wintermärchen?

Als Wladimir Putin die Bühne im Kreml-Kongresspalast betritt - lange bevor sich das ZDF in die Show einklinkt -, steht das Publikum auf und lässt sich erst wieder auf seine Sessel nieder, als er dazu auffordert. In Russland ist das normal, da wird auch bei Pressekonferenzen des Präsidenten applaudiert. Die Fußball-Prominenz passt sich leicht an, zumindest wenn man dem staatlichen Sender "Rossija" glaubt. Der berichtet am Abend, die Fußballer hätten Schlange gestanden, um sich bei einer Audienz vor der Los-Zeremonie mit dem Präsidenten zu fotografieren. Der Kreml stellt Bilder in herzlicher Umarmung mit Maradona und Pelé auf seine Website.

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(Foto: Christian Charisius/dpa)

Moskau sucht die WM-Stimmung: Die deutsche Weltmeister-Elf von 2014 jubelt im Straßenbild von einem Plakat,...

...der russische Präsident Wladimir Putin nutzt vor der Auslosung die Chance zum Gruppenbild mit den Ikonen Diego Maradona und Pelé.

Vor Beginn der Auslosung spricht Putin dann von Freundschaft und Fairplay, den Werten der globalen Fußball-Familie, die von äußeren Umständen unabhängig seien. Als er fertig ist, sagt Gianni Infantino: "The tension ist growing", und für einen Moment erschrickt man und denkt, jetzt spricht der Fifa-Chef gleich die Themen an, die im Grunde in der Luft liegen.

Aber Infantino meint dann doch nicht die politische Weltlage und auch nicht die allgegenwärtigen Dopingvorwürfe, er meint bloß die Spannung vor der Auslosung. Die wird dann zum zweiten Grund, warum das ein guter Tag ist für Russland. Saudi-Arabien, Ägypten, Uruguay - entweder die Fifa liebe Russland tatsächlich, oder beim Weltverband habe man einfach großes Mitleid mit dem Gastgeber, scherzt später die Zeitung Sowjetskij Sport. Die Komposition der Gruppe A, wie auch immer sie zustande gekommen sein mag, laufe wohl unter "humanitärer Hilfe" für Russland. Russlands Trainer Stanislaw Tschertschessow bleibt nüchterner: Für Euphorie gebe es keinen Grund, sagt er; Ziel bleibe weiter, die Gruppenphase zu überstehen - "das können wir schaffen". Immerhin wäre es das erste Mal für Russland bei einer WM.

Die meisten Beobachter teilen an diesem Abend in Moskau die Einschätzung, dass es für Russland gar keine leichte Gruppe geben kann. Okay, mit massiver Unterstützung von den Rängen des Luschniki-Stadions sei beim Auftaktspiel ein Sieg gegen Saudi-Arabien drin, glaubt Nikolaj Jaremenko, der Chefredakteur von Sowjetskij Sport, nennt dieses Szenario allerdings "eine optimistische Prognose". Das dürfte den Erfolgsdruck, vorzeitig weiter zu kommen, dann so in die Höhe treiben, glaubt er, dass es vor Nervosität gegen Ägypten nur für ein Unentschieden reicht. Gefolgt von einer schmachvollen Niederlage gegen Uruguay. Mit Glück käme die russische Sbornaja so ins Achtelfinale. "Dort erwarten uns Spanien oder Portugal - muss man jemandem erklären, was das bedeutet?"

Also lieber nicht zu viel nachdenken, lieber freuen auf das Fest, das jetzt näher rückt nach sieben Jahren Ärger mit dem Bau der Stadien und vielen Enttäuschungen auf dem Platz. "Unabhängig davon, wie das Ergebnis einer von 32 Mannschaften ausfällt - das Karnevals-Gefühl sollten wir uns bewahren", fordert Jaremenko.

Vielleicht, um die gute Stimmung nicht zu trüben, ersparte das russische TV seinen Zuschauern den Auftritt von Witalij Mutko. In einem zehn Minuten dauernden Wutanfall hatte der Vize-Premier und Chef des WM-Organisationskomitees am Freitagmittag alle Doping-Vorwürfe empört zurückgewiesen und über eine Schmutzkampagne gegen Russland getobt. Staatsdoping habe es nie gegeben: "Es heißt immer, überall auf der Welt ist es gut, aber in Russland ist es schlecht." Das Internationale Olympische Komitee entscheidet am Dienstag über Sanktionen gegen Russland ( siehe Meldung rechts); für den Fall, dass die Sportler unter neutraler Flagge bei den Winterspielen 2018 in Südkorea antreten müssen, erwägt Moskau einen Boykott.

Die WM im eigenen Land kann man nicht boykottieren. Muss man aber auch nicht - die Fifa bleibt angesichts der Doping-Hinweise weiter desinteressiert.

Am Abend war dann der ehemalige spanische Nationalspieler Carles Puyol in einer Comedy-Show im staatlichen Ersten Kanal zu Gast. Da ist immerhin etwas von jener Selbstironie zu spüren, die Russland manchmal auch kann. Wie die Spanier denn so feierten nach einem Turnier, wollten die Moderatoren wissen; ob es auch üblich sei, es nach einer Niederlage ausgiebig krachen zu lassen? Nachdem die russische Elf bei der EM 2016 als Gruppenletzter ausgeschieden war, wurde bekannt, dass die Spieler eine Wohnungs-Party veranstaltet hatten - mit Champagner für 250 000 Euro. Verlieren können ist auch eine Tugend. Vielleicht kann Mutko da sogar von seinen Sportlern lernen.

© SZ vom 04.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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